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Die Evolution frisst keine Kinder – eine anthropologische Revision

Kirsten Armbruster

Der Denk­feh­ler der Anthro­po­lo­gie ist zu glau­ben, dass der Mann im Zen­trum mensch­li­cher Evo­lu­ti­on stand | Foto: Franz Arm­brus­ter, Museo de la Evo­lu­ción Huma­na, Bur­gos, Spanien

Neben der Archäo­lo­gie und der Theo­lo­gie gehört auch die Anthro­po­lo­gie zu den Hoch­bur­gen des Patri­ar­chats. Hand in Hand ver­tei­di­gen sie die fal­sche Leh­re der weib­li­chen Bedeu­tungs­lo­sig­keit. Frau­en wer­den in der Mensch­heits­ge­schich­te und in der Got­tes­ge­schich­te unsicht­bar gemacht durch die halt­lo­se Behaup­tung: der Mann stand schon immer im Zen­trum von Geschich­te und Religion.

Die neu­es­ten Erkennt­nis­se der inter­dis­zi­pli­nä­ren Patri­ar­chats­kri­tik­for­schung stra­fen die­se Ideo­lo­gien Lügen und ent­lar­ven deren Dog­men als Bas­tio­nen patri­ar­cha­ler Defi­ni­ti­ons- und Ord­nungs­macht, um männ­li­che Herr­schafts­macht zu legitimieren.

Das Vir­tu­el­le Muse­um www​.her​sto​ry​-histo​ry​.com kor­ri­giert die fal­schen Leh­ren des Patri­ar­chats und lenkt den Blick auf die ursprüng­li­che Bedeu­tung der Müt­ter, nicht als pas­si­ves, auf Kin­der redu­zier­tes Gefäß des Man­nes, son­dern als Trä­ge­rin­nen mensch­li­cher Kul­tur und Reli­gi­on.

Die Entwicklung des emotional modernen Menschen

Mensch­li­che Kul­tur in ihren Ursprün­gen zeigt sich nach den neus­ten Erkennt­nis­sen der Sozio­bio­lo­gie, ent­ge­gen der übli­chen evo­lu­ti­ons­psy­cho­lo­gi­schen Beschrei­bun­gen, in denen Aggres­si­on und Kil­ler­instink­te in der Evo­lu­ti­ons­an­thro­po­lo­gie einen gro­ßen Raum ein­neh­men, als das Gegen­teil, näm­lich als fried­lich, empa­thisch, altru­is­tisch, schenk­be­reit und hyper­so­zi­al. Das patri­ar­cha­le Para­dig­ma, den Mann als Dreh- und Angel­punkt der Evo­lu­ti­on ins Zen­trum zu set­zen, ver­stell­te nur den Blick­win­kel auf den tat­säch­li­chen Ursprung der mensch­li­chen Evo­lu­ti­on, in der die Müt­ter im Zen­trum stan­den. Die ame­ri­ka­ni­sche Anthro­po­lo­gin und Pri­ma­ten­for­sche­rin Sarah Blaf­fer Hrdy, die den „emo­tio­nal moder­nen Men­schen“ in die wis­sen­schaft­li­che Dis­kus­si­on ein­bringt, schreibt:

Evo­lu­tio­när gese­hen, sind ana­to­misch und ver­hal­tens­mä­ßig moder­ne Men­schen bemer­kens­wert jung. Ich bin jedoch fest davon über­zeugt, dass emo­tio­nal moder­ne Men­schen viel älter sind. Mit „emo­tio­nal modern“ mei­ne ich jene zwei­bei­ni­gen Men­schen­af­fen, die mit der Bereit­schaft zu tei­len und mit empa­thi­schen, inter­sub­jek­ti­ven Fähig­kei­ten gebo­ren wur­den, wel­che sich tief­grei­fend von jenen unter­schie­den, wie wir sie bei heu­ti­gen Schim­pan­sen beob­ach­ten“. (Blaf­fer Hrdy, Sarah, Müt­ter und Ande­re, 2009, S. 98).

Auf die unge­wöhn­li­chen inter­sub­jek­ti­ven Fähig­kei­ten des Men­schen hat­te erst­mals Micha­el Toma­sel­lo, der ame­ri­ka­ni­sche Lei­ter der Leip­zi­ger For­schungs­grup­pe für Ent­wick­lungs­psy­cho­lo­gie mit sei­nen Mit­ar­bei­te­rIn­nen hin­ge­wie­sen und im Jahr 2005 hat­ten sie eine neue Trenn­li­nie zwi­schen mensch­li­chen und nicht­mensch­li­chen Men­schen­af­fen vor­ge­schla­gen. Sie schrieben:

Wir sind der Auf­fas­sung …, dass der ent­schei­den­de Unter­schied zwi­schen der Kogni­ti­on des Men­schen und der ande­rer Arten die Fähig­keit ist, an gemein­schaft­li­chen Akti­vi­tä­ten mit gemein­sa­men Zie­len und Inten­tio­nen mit­zu­wir­ken. Im Augen­blick kenn­zeich­net die­ses Merk­mal zusam­men mit unse­rem außer­ge­wöhn­lich gro­ßen Gehirn­vo­lu­men und unse­rem Sprach­ver­mö­gen die neue Trenn­li­nie, die uns von ande­ren Men­schen­af­fen unter­schei­det. Ent­spre­chend sind Men­schen und nur Men­schen dar­auf aus­ge­legt, an gemein­schaft­li­chen Akti­vi­tä­ten teil­zu­neh­men, die gemein­sa­me Zie­le und sozi­al koor­di­nier­te Hand­lungs­plä­ne umfas­sen“. (zit. Aus Blaf­fer Hrdy: Müt­ter und Ande­re, 2009, S. 22/​23).

In ihrem die Mensch­heits­ge­schich­te revo­lu­tio­nie­ren­den Buch „Müt­ter und Ande­re“, in dem Blaf­fer Hrdy den wis­sen­schaft­li­chen Beweis führt, wie die Evo­lu­ti­on den Men­schen zu sozia­len Wesen mach­te, weist sie schon in ihrem ein­füh­ren­den Text auf eine drin­gend not­wen­di­ge ande­re Sicht­wei­se in der anthro­po­lo­gi­schen und sozio­bio­lo­gi­schen Wis­sen­schaft hin. Sie schreibt:

Die Tat­sa­che, dass Kin­der so sehr auf Nah­rung ange­wie­sen sind, die ande­re beschaf­fen, ist ein Grund wes­halb die­je­ni­gen, die nach all­ge­mei­nen mensch­li­chen Merk­ma­len suchen, gut bera­ten wären, mit der Bereit­schaft zum Tei­len zu begin­nen“. (eben­da, S. 34).

Die Wis­sen­schaft­le­rin führt wei­ter aus:

Das Tei­len von Nah­rung mit unrei­fen Indi­vi­du­en, die zu jung sind, um sich selbst zu ver­sor­gen oder die Nah­rung rich­tig zu ver­wer­ten, ist ein ent­schei­den­des, aber oft über­se­he­nes Kapi­tel der mensch­li­chen Ent­wick­lungs­ge­schich­te… Bei kei­ner ande­ren Art aber sind unrei­fe Indi­vi­du­en, was ihre Ernäh­rung betrifft, jah­re­lang so sehr auf ande­re ange­wie­sen wie beim Men­schen“. (eben­da, S. 116).

Das ist der Grund war­um homi­ni­ne Klein­kin­der unter ande­ren Bedin­gun­gen auf­wuch­sen als die Nach­kom­men aller ande­ren Pri­ma­ten. Sie schreibt:

Ver­mut­lich bereits vor 1,8 Mil­lio­nen Jah­ren wur­den homi­ni­ne Jun­ge neben der Mut­ter von einer gan­zen Rei­he wei­te­rer Indi­vi­du­en umsorgt und ernährt, und die­se Auf­zucht­be­din­gun­gen schu­fen die Vor­aus­set­zung für das Auf­tre­ten eines emo­tio­nal moder­nen Men­schen­af­fen“. (eben­da, S. 99).

Aus die­ser Tat­sa­che ent­wi­ckelt sich beim Men­schen ein beson­ders aus­ge­präg­tes koope­ra­ti­ves Auf­zucht­ver­hal­ten, das die Für­sor­ge und die Ernäh­rung der Jun­gen auf meh­re­re Schul­tern ver­teilt. (eben­da, S. 118). Die­ses koope­ra­ti­ve Auf­zucht­ver­hal­ten des Men­schen unter­schei­det sich signi­fi­kant von dem der Men­schen­af­fen, wie den Goril­las, den Orang-Utans oder auch den mit den Men­schen gene­tisch am stärks­ten ver­wand­ten Men­schen­af­fen wie den Schim­pan­sen (pan tro­glo­dytes) oder den Bono­bos (pan panis­cus), wo aus­schließ­lich die Müt­ter die ers­te und ein­zi­ge Quel­le von Kör­per­wär­me, Fort­be­we­gung, Ernäh­rung und Sicher­heit sind. (eben­da, S. 101).

Blaf­fer Hrdy führt wei­ter aus:

Bei Schim­pan­sen, die eben­falls lang­sam her­an­wach­sen, wer­den Jung­tie­re inso­fern mit Nah­rung ver­sorgt, als ihre Müt­ter sie nach Nah­rung grei­fen las­sen… Doch nur bei Men­schen beginnt müt­ter­li­ches und all­oel­ter­li­ches Nah­rungs­tei­len in den ers­ten Lebens­mo­na­ten und wird dann jah­re­lang fort­ge­führt. Auf vor­ge­kau­te Säug­lings­nah­rung folgt „Fin­ger­food“, und dar­auf wie­der­um Nüs­se und gekoch­te Wur­zeln, die von Groß­müt­tern und Groß­tan­ten gesam­melt und oft müh­sam zube­rei­tet wer­den – sowie die köst­lichs­ten Spei­sen über­haupt, Honig und Fleisch, die der Vater, der Onkel oder ande­re Jäger mit­brin­gen“. (eben­da, S. 117).

Blaf­fer Hrdy spricht expli­zit von der „Schenk­be­reit­schaft“ der Men­schen­gat­tung. Sie erläutert:

Fäl­le von nicht­mensch­li­chen Tie­ren, die in ech­ter Groß­zü­gig­keit frei­wil­lig einen Lecker­bis­sen anbie­ten, sind sel­ten, außer bei Arten, die, wie der Mensch, eine inten­si­ve evo­lu­tio­nä­re Geschich­te der soge­nann­ten koope­ra­ti­ven Jun­gen­auf­zucht haben, bei der Jung­tie­re gemein­sam umsorgt und ernährt wer­den. Unter den höhe­ren Pri­ma­ten genießt der Mensch wegen sei­ner stän­di­gen Bereit­schaft, klei­ne Gefäl­lig­kei­ten zu tau­schen und Geschen­ke zu machen, eine Son­der­stel­lung. (eben­da, S. 42).

Die Entstehung von Matrifokalität auf der Grundlage des kooperativen Aufzuchtverhaltens

Auf­grund die­ses für den Men­schen aus­ge­präg­ten koope­ra­ti­ven Auf­zucht­ver­hal­tens, das noch vor der Sprach­ent­wick­lung eines der Kenn­zei­chen der Mensch­wer­dung ist, erklärt sich nun, war­um sich beim Men­schen im Pleis­to­zän das Zusam­men­le­ben in matrif­o­ka­len Bluts­fa­mi­li­en evo­lu­ti­ons­bio­lo­gisch als beson­ders güns­tig erwies. Schau­en wir uns an warum:

Exo­ga­mie ist bei den Pani­den gene­tisch ange­legt und wird durch Che­mo­ta­xis gesteu­ert. Das bedeu­tet beim pan panis­cus, dass geschlechts­rei­fe Frau­en ihre Geburts­grup­pe ver­las­sen. Die Töch­ter emi­grie­ren, die Söh­ne blei­ben in ihrer Geburts-Fami­lie. Pan panis­cus ist also viri­lo­kal. (Bott, Ger­hard, 2009, S. 17). Das ist mög­lich, weil die Men­schen­af­fen­ba­bys aus­schließ­lich von der Mut­ter ver­sorgt wer­den. Das ande­re – koope­ra­ti­ve Auf­zucht­ver­hal­ten des Men­schen – ver­langt aber ein matrif­o­ka­les Zusam­men­le­ben, das noch bes­ser ver­ständ­lich wird, wenn die von Kris­ten Haw­kes und ihrem Team erst­mals pos­tu­lier­te Groß­mutter­the­se in die frü­hes­te Sozio­bio­lo­gie des Men­schen mit ein­be­zo­gen wird.

Großmutterhypothese statt Jagd- und Sex-für-Beute-Hypothese

Da sich inzwi­schen geklärt hat, dass die Jäger in Wild­beu­te­rIn­nen­ge­mein­schaf­ten nicht die Haupt­ver­sor­ger der Sip­pen waren, da ihre Beu­te viel zu unsi­cher für die täg­lich nöti­ge Kalo­rien­zu­fuhr war, son­dern die täg­li­che Ernäh­rung der Sip­pe von den Sam­mel­fä­hig­kei­ten der Frau­en abhing, ist die von patri­ar­cha­len Wis­sen­schaft­lern favo­ri­sier­te Jagd­hy­po­the­se, wel­che den Mann als Haupter­näh­rer und Ver­sor­ger der Sip­pe und die Mut­ter in öko­no­mi­scher Abhän­gig­keit von ihm, in sich zusam­men­ge­fal­len. Die damit ver­bun­de­ne sozio­bio­lo­gi­sche Leh­re „Sex für Beu­te“ ist also falsch. Statt­des­sen ist dank der ande­ren Her­an­ge­hens­wei­se weib­li­cher Wis­sen­schaft­le­rin­nen die Groß­mutter-Hypo­the­se in der Anthro­po­lo­gie ange­kom­men. For­schun­gen der ame­ri­ka­ni­schen Anthro­po­lo­gin Kris­ten Haw­kes von der Uni­ver­si­tät Utah an Groß­müt­tern beim wild­beu­te­risch leben­den Volk der Haz­da zeig­ten näm­lich, dass die eif­rigs­ten Nah­rungs­samm­le­rin­nen die Groß­müt­ter und Groß­tan­ten waren. Blaf­fer Hrdy fasst die For­schungs­er­geb­nis­se von Kris­ten Haw­kes und ihren Mit­ar­bei­te­rIn­nen an den Haz­da in Tan­sa­nia sowie Paul Tur­kes For­schungs­be­rich­te vom Ifa­luk-Atoll und Flinns Berich­te von Tri­ni­dad, die alle die Groß­mutter­hy­po­the­se stüt­zen, wie folgt zusammen:

…die Vor­lie­be der Haz­da-Män­ner für pres­ti­ge­träch­ti­ges Groß­wild wie Elen­an­ti­lo­pen hat­te zur Fol­ge, dass sie nur sel­ten Beu­te mach­ten…. An den meis­ten Tagen kehr­ten die Män­ner mit lee­ren Hän­den zurück, und es war die Tag für Tag von Frau­en gesam­mel­te Nah­rung, die die Kin­der satt mach­te. Haw­kes und ihren Mit­ar­bei­tern fiel noch etwas ande­res auf. Die Samm­le­rin­nen, die mor­gens als Ers­te das Lager ver­lie­ßen und am Abend als Letz­te zurück­kehr­ten, sowie die­je­ni­gen, die die schwers­ten Las­ten tru­gen, waren (anders als man erwar­ten soll­te) nicht jun­ge Frau­en in der Blü­te ihrer Jah­re. Und es waren auch nicht die Müt­ter mit hung­ri­gen Kin­dern, die im Lager auf ihre Rück­kehr war­te­ten. Die eif­rigs­ten Nah­rungs­samm­le­rin­nen waren viel­mehr alte Frau­en mit leder­ge­gerb­ten Gesich­tern, deren Blü­te lan­ge zurück­lag. In einem weg­wei­sen­den Auf­satz mit dem Titel „Hart arbei­ten­de Haz­da-Groß­müt­ter“ beschrie­ben die For­scher Groß­tan­ten und Groß­müt­ter, die, statt die Bei­ne hoch­zu­le­gen und ihre nicht län­ger durch die Mühen der Kin­der­auf­zucht belas­te­ten “gol­de­nen Jah­re“ zu genie­ßen, här­ter arbei­te­ten denn je. Kin­der in die­sen Wild­beu­ter­grup­pen, die eine Groß­mutter oder Groß­tante hat­ten, die bei ihrer Ernäh­rung hal­fen, wuch­sen schnel­ler her­an. In Zei­ten der Nah­rungs­knapp­heit hat­ten die­se Kin­der höhe­re Über­le­bens­chan­cen. Tur­kes Berich­te vom Ifa­luk-Atoll, Flinns Berich­te von Tri­ni­dad und jetzt die­se Erkennt­nis­se über Jäger-Samm­ler in Tan­sa­nia wie­sen alle auf bemer­kens­wer­te Par­al­le­len zwi­schen Grup­pen mit koope­ra­ti­ver Jun­gen­auf­zucht hin. In allen Stu­di­en waren es hilfs­be­rei­te All­oel­tern – älte­re Schwes­tern, Groß­müt­ter oder Groß­tan­ten -, die Müt­ter erlaub­ten, mehr Nach­kom­men mit bes­se­ren Über­le­bens­chan­cen her­vor­zu­brin­gen“. (eben­da, S. 151/​152).

Die­se For­schungs­er­geb­nis­se sind revo­lu­tio­när, bele­gen sie doch, dass Groß­müt­ter und Groß­tan­ten einen enorm wich­ti­gen Bei­trag zur Ver­sor­gung der nächs­ten Gene­ra­ti­on lie­fern. Begreift man den Bei­trag der Groß­müt­ter für die nächs­te Gene­ra­ti­on als men­schen­art­ge­recht, erklärt sich der evo­lu­ti­ons­bio­lo­gi­sche Nut­zen der unge­wöhn­lich lan­gen Lebens­dau­er von Men­schen­müt­tern nach der Meno­pau­se, und es wird auch deut­lich, dass Men­schen­män­ner auch heu­te noch im Ver­gleich zu Frau­en eine signi­fi­kant gerin­ge­re Lebens­dau­er haben.

Auf der Basis der Groß­mutter­hy­po­the­se schau­ten sich die bri­ti­schen Anthro­po­lo­gin­nen Rebec­ca Sear und Ruth Mace noch ein­mal die Unter­la­gen einer Stu­die über die Gesund­heit von Mut­ter und Kind genau­er an, die zwi­schen 1950 und 1980 vom United King­dom Medi­cal Rese­arch Coun­cil bei den Man­din­ka-Acker­bau­ern in Gam­bia erho­ben wor­den waren und zu den auf­wän­digs­ten Stu­di­en zählt, die in einer tra­di­tio­nel­len Gesell­schaft jemals durch­ge­führt wur­den. Auch die von den For­sche­rin­nen neu inter­pre­tier­ten Ergeb­nis­se die­ser Stu­di­en ver­än­dern die übli­che patri­ar­cha­le Her­an­ge­hens­wei­se der Anthro­po­lo­gie in bedeu­ten­der Wei­se, len­ken sie doch den Blick dar­auf, dass die höhe­ren Über­le­bens­chan­cen von Kin­dern vor allem an ein matri­li­nea­res Ver­wandt­schafts­ver­hält­nis gekop­pelt ist. Blaf­fer Hrdy fasst auch die Ergeb­nis­se der bri­ti­schen Anthro­po­lo­gin­nen Sear und Mace zusammen:

Aus der Sicht eines Mad­in­ka-Kin­des war es buch­stäb­lich lebens­ret­tend, wenn es eine älte­re Schwes­ter hat­te, die baby­sit­ten konn­te, oder eine Groß­mutter müt­ter­li­cher­seits, die zusätz­li­che Nah­rung besorg­te und sich um das Kind küm­mer­te. Die Anwe­sen­heit des leib­li­chen Vaters, von Groß­el­tern väter­li­cher­seits oder eines älte­ren Bru­ders hat­te dage­gen kei­ne mess­ba­ren Aus­wir­kun­gen auf die Über­le­bens­chan­cen von Kin­dern. Wenn aber nach dem Ver­lust des Vaters ein Stief­va­ter die Büh­ne betrat, san­ken die Über­le­bens­chan­cen des Kin­des deut­lich. Ansons­ten hat­ten Väter, wie es die For­scher unver­hoh­len for­mu­lier­ten, „abso­lut kei­nen Effekt auf den anthro­po­me­tri­schen Sta­tus oder die Über­le­bens­chan­cen eines Kin­des“ – sofern Allo­müt­ter zur Ver­fü­gung stan­den“. (eben­da, S. 154).

Tat­säch­lich bie­tet die wis­sen­schaft­li­che Focus­sie­rung auf Groß­müt­ter und ins­be­son­de­re auf matri­li­nea­re Groß­müt­ter die Lösung dafür, war­um sich beim Men­schen im Lau­fe des Pleis­to­zäns das Leben in matrif­o­ka­len Bluts­fa­mi­li­en evo­lu­ti­ons­bio­lo­gisch durchsetzte.

Was bedeutet Matrifokalität?

Matrif­o­ka­li­tät bedeu­tet Müt­ter im Focus, Müt­ter im Zen­trum und beinhal­te­te Matri­li­nea­ri­tät und Matri­lo­ka­li­tät.

Matri­li­nea­ri­tät heißt, dass die Ver­wandt­schaft uni­li­ne­ar matri­li­ne­ar abge­lei­tet wur­de. Bei einer frei geleb­ten, wech­seln­den, von den Frau­en durch die bio­lo­gisch ver­an­ker­te fema­le choice bestimm­ten Sexua­li­tät war indi­vi­du­el­le Vater­schaft nicht nach­weis­bar und des­we­gen ohne Bedeu­tung. Wenn indi­vi­du­el­le Vater­schaft kei­ne Bedeu­tung hat, dann ergibt sich dar­aus, die Abstam­mung nur über die Mut­ter abzu­lei­ten. Matri­lo­ka­li­tät bedeu­tet, dass die Töch­ter die matri­li­nea­re Bluts­fa­mi­lie nicht ver­lie­ßen. Das war die direk­te Fol­ge des koope­ra­ti­ven Auf­zucht­ver­hal­tens beim Men­schen, um die Ernäh­rung ihrer Kin­der durch konsan­gui­na­le Ver­wandt­schafts­be­zie­hun­gen best­mög­lich abzusichern.

Matrif­o­ka­li­tät beweg­te sich bio­lo­gisch immer inner­halb der von der frei­en Ent­schei­dung der Frau bestimm­ten Sexua­li­tät, der soge­nann­ten fema­le choice, die Ver­ge­wal­ti­gung aus­schließt und der eben­falls bio­lo­gisch durch Che­mo­ta­xis deter­mi­nier­ten Inzest­schran­ke. Das bedeu­tet, dass in der paläo­li­thi­schen, matri­li­nea­ren, wild­beu­te­risch, ega­li­tär leben­den Bluts­fa­mi­lie auf­grund der Inzest­schran­ke die geschlechts­rei­fen Brü­der nicht matri­lo­kal leb­ten und statt­des­sen nicht bluts­ver­wand­te Män­ner als Sexu­al­part­ner aus ande­ren Sip­pen sozi­al und öko­no­misch ein­ge­glie­dert wur­den. Das bedeu­tet, wir haben im größ­ten Teil des Pleis­to­zäns ein kol­lek­ti­ves für­sorg­li­ches Väter­be­wusst­sein, jedoch kein indi­vi­du­el­les, aus dem sich „Väter­rech­te“ ablei­ten las­sen. (Arm­brus­ter, Kirs­ten, 2014)

Die Entstehung der Paarungsfamilie mit bilinearer Abstammung

Die bei­den Lieb­lings­the­sen der gän­gi­gen Anthro­po­lo­gie und der Archäo­lo­gie, näm­lich die „Jagd- und Sex-für-Beu­te-Hypo­the­se“ und die auf ihr gegrün­de­te wei­te­re The­se, die „mono­ga­me Paa­rungs­fa­mi­lie mit bili­nea­rer Abstam­mung“ bereits für den Anfang der Mensch­heits­ge­schich­te zu pos­tu­lie­ren, und damit zu sug­ge­rie­ren, das Patri­ar­chat habe es schon immer gege­ben, die­se The­sen erwei­sen sich als Kar­di­nal­feh­ler patri­ar­chal-ideo­lo­gisch gepräg­ter „Wis­sen­schaft“. Das schö­ne Wort „Kar­di­nal­feh­ler“ ver­weist auch gleich auf eine wei­te­re Ideo­lo­gie, dem die­ser Feh­ler eben­so zugrun­de liegt: dem Kar­di­nal, und so ent­larvt Spra­che bis heu­te das Patri­ar­chat. Wen wun­dert es, basiert doch auch die Ent­ste­hung von Spra­che im Pleis­to­zän auf Mut­ter­spra­che und damit Mut­ter­kul­tur.

Wie Ger­hard Bott in sei­nem eben­falls revo­lu­tio­nä­ren Buch „Die Erfin­dung der Göt­ter“ (Band 1: 2009 und Band 2: 2014) logisch bril­lant abge­lei­tet hat, ent­wi­ckelt sich die Paa­rungs­fa­mi­lie und die damit ver­bun­de­ne bili­nea­re Vater-Mut­ter-Abstam­mung erst im Lau­fe des Neo­li­thi­kums im Zuge der öko­no­mi­schen Imple­men­tie­rung von Tier­zucht in Form von Her­den­hal­tung. Mit der Her­den­hal­tung ein­her geht ein ver­än­der­tes Bedeu­tungs­ver­ständ­nis von männ­li­cher Frucht­bar­keit, wel­che der weib­li­chen im Zuge der Her­den­hal­tung über­le­gen zu sein scheint, denn im Zuge der Her­den­hal­tung von Tie­ren erfah­ren die Män­ner, dass nur weni­ge männ­li­che Tie­re aus­rei­chen, um eine weib­li­che Her­de zu begat­ten. (Arm­brus­ter, Kirs­ten: Das Mut­ter­ta­bu, 2010, S. 187). Bott schreibt: über den Wan­del der uni­li­ne­ar matri­li­nea­ren Bluts­fa­mi­lie zur bili­nea­ren Paa­rungs­fa­mi­lie im Modus II/​III des Neolithikums:

Erst jetzt wan­delt sich die matri­li­nea­re Uni­li­nea­ri­tät des Ver­wandt­schafts- und Gesell­schafts­sys­tems zur Bili­nea­ri­tät, d.h. erst jetzt wird die uni­li­nea­re Matri­li­nea­ri­tät des Ver­wandt­schafts­sys­tems ergänzt durch patri­li­nea­re Ver­wandt­schaft. An die Stel­le der allein auf die Mut­ter bezo­ge­nen Bluts­fa­mi­lie tritt die auf die Eltern bezo­ge­ne Paa­rungs­fa­mi­lie, die auch als Lebens- und Wirt­schafts­ge­mein­schaft insti­tu­tio­na­li­siert wird, und zwar vom Mann, eine neue Fami­li­en­form, wel­che die Bluts­fa­mi­lie ersetzt und zer­setzt, indem das genos­sen­schaft­li­che Gesamt­hand­sei­gen­tum pri­va­ti­siert wird zum Pri­vat­ei­gen­tum… Erst mit der neo­li­thi­schen Paa­rungs­fa­mi­lie, die durch die Hei­li­ge Hoch­zeit gehei­ligt wird…, kann der Mann Patri­li­nea­ri­tät, Patri­lo­ka­li­tät der Exo­ga­mie und Patrif­o­ka­li­tät durch­set­zen“. (Bott, Ger­hard, 2009, S. 130).

In die­sem Zusam­men­hang sei noch ein­mal aus­drück­lich auf den fal­schen und irre­füh­ren­den Matri­ar­chats­be­griff hin­ge­wie­sen. Wie in die­ser sozio­bio­lo­gi­schen Frei­le­gung von Matrif­o­ka­li­tät deut­lich sicht­bar wur­de, hat es eine Müt­ter­herr­schaft – was der Spie­gel­be­griff Matri­ar­chat zu Patri­ar­chat asso­zi­iert – nie gege­ben, wes­halb der Begriff schon an sich unsin­nig ist. Noch unsin­ni­ger wird er aller­dings durch die Matri­ar­chats­de­fi­ni­ti­on von Hei­de Gött­ner-Abend­roth, die aus­ge­rech­net die „Hei­li­ge Hoch­zeit“- auch noch in der neus­ten Auf­la­ge ihres Buchs „Die Göt­tin und ihr Heros“ (2011) -, zum Kern­stück eines angeb­li­chen Matri­ar­chats erho­ben hat, womit sie ihre völ­li­ge Unkennt­nis der sozio­bio­lo­gi­schen Mensch­heits­ge­schich­te offen­bart und durch die­se Unkennt­nis gleich­zei­tig unter­mau­ert, dass der Matri­ar­chats­be­griff in jeder Hin­sicht abzu­leh­nen ist, weil er gro­ßen Scha­den bei der patri­ar­chats­kri­ti­schen Frei­le­gung mensch­li­cher Geschich­te anrichtet.

Schlussfolgerung: Matrifokalität und das Fehlen von Krieg

Zum Abschluss die­ser evo­lu­ti­ons­bio­lo­gi­schen Abhand­lung zur Mensch­heits­ge­schich­te, wel­che die neus­ten evo­lu­ti­ons­psy­cho­lo­gi­schen Erkennt­nis­se eines empa­thi­schen, altru­is­ti­schen, schenk­be­rei­ten, hyper­so­zia­len Ursprung des Men­schen mit der sozio­bio­lo­gi­schen matrif­o­ka­len Lebens­form des Men­schen kau­sal in Zusam­men­hang stellt, sei noch ein­mal aus­drück­lich dar­auf hin­ge­wie­sen, dass mensch­li­che Kul­tur im Pleis­to­zän und auch noch in wei­ten Tei­len des Neo­li­thi­kums geprägt ist durch das Feh­len eines der Haupt­merk­ma­le des Patri­ar­chats, näm­lich dem FEHLEN VON KRIEG. Gewalt­tä­ti­ge Aus­ein­an­der­set­zun­gen in Grup­pen konn­te die Archäo­lo­gie näm­lich erst im Lau­fe des Neo­li­thi­kums um 6300 v.u.Z. in der Ofnet­höh­le im süd­deut­schen Nörd­lin­ger Riess fest­stel­len, wo an sechs Schä­deln Hieb­ver­let­zun­gen nach­weis­bar waren. Der nächs­te Fund, der auf Gewalt­ein­wir­kung schlie­ßen lässt, konn­te archäo­lo­gisch erst wie­der ein­tau­send­drei­hun­dert Jah­re spä­ter, 5000 v.u.Z. eben­falls in Deutsch­land, in Tal­heim bei Heil­bronn aus­ge­macht wer­den. Das Kriegs­zeit­al­ter selbst beginnt mit der Bron­ze­zeit, dem ers­ten Auf­tau­chen von Streit­wa­gen­krie­gern ab 3300 v.u.Z. im Vor­de­ren Ori­ent und ist eng kor­re­liert mit der Metall­ge­win­nung durch Berg­bau und der Pfer­de­do­mes­ti­ka­ti­on, die Vor­aus­set­zung waren für Reichs­grün­dun­gen durch krie­ge­ri­sche Erobe­rung und inter­es­san­ter­wei­se mit der erst­ma­li­gen nament­li­chen Nen­nung von Göt­tern und Göt­tin­nen zeit­lich ein­her­ge­hen. (sie­he Zeit­ta­fel der mensch­li­chen Geschich­te).

Das bedeu­tet, dass die Mensch­heit den aller­größ­ten Teil ihrer Geschich­te ihrer hyper­so­zia­len Natur gemäß in Frie­den leb­te, was eine sozio­lo­gisch kul­tu­rel­le Groß­leis­tung und der Tat­sa­che geschul­det ist, dass die Müt­ter im Zen­trum mensch­li­cher Gemein­schaft stan­den. Matrif­o­ka­li­tät war also nicht nur die Vor­aus­set­zung für mensch­li­che Kul­tur­ent­wick­lung, son­dern auch der Garant für Frie­den. Es bedeu­tet auch, dass mit der Zer­stö­rung von Matrif­o­ka­li­tät wenig spä­ter das Kriegs­zeit­al­ter beginnt, des­sen Heroi­sie­rung Gegen­stand der geschrie­be­nen patri­ar­cha­len Histo­ry ist, wäh­rend die Her­sto­ry, die wesent­lich län­ge­re und kul­tu­rell bedeu­tungs­vol­le Mensch­heits­ge­schich­te der Matrif­o­ka­li­tät von der patri­ar­cha­len Geschichts­schrei­bung unter­schla­gen wird.

Literatur

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