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Matrifokalität

Matrifokalität heißt: Mütter im Fokus, Mütter im Zentrum

Kirsten Armbruster

Die Land­schafts­ahnin von Lou­ro in der Nähe der Nabel­stein­pe­tro­gly­phen von Laxe das Rodas, Gali­ci­en, Spa­ni­en (sie­he Kirs­ten Arm­brus­ter: Der Muschel­weg) | Bild: Franz Armbruster

Matrifokalität und Religion

Matrif­o­ka­li­tät ergibt sich aus der natür­li­chen Tat­sa­che, dass die Viel­falt mensch­li­chen Lebens, näm­lich weib­li­ches, männ­li­ches, inter­se­xu­el­les, trans­se­xu­el­les oder auch ase­xu­el­les mensch­li­ches Leben, nabel­ge­bun­den im Kör­per der Mut­ter her­an­wächst und von ihrem Kör­per gebo­ren, also ent­bun­den wird. Nicht der Mann und auch nicht die auf Sexua­li­tät redu­zier­te Frau stan­den also zu Beginn der Mensch­heits­ge­schich­te im Focus des mensch­li­chen Lebens, wie uns das Patri­ar­chat heu­te täg­lich weis­ma­chen will, son­dern die ein­zig­ar­ti­ge Fähig­keit von Müt­tern durch ihre Kör­per neu­es Leben in die Welt zu gebä­ren: Men­schen­müt­ter und Tier­müt­ter.

Die­se, durch die Natur vor­ge­ge­be­ne Fokus­sie­rung auf die Mut­ter, ist Teil der mensch­li­chen Bewusst­wer­dung im Lau­fe der Mensch­heits­ge­schich­te und ist erst­mals kogni­tiv sicht­bar durch die Fun­de von Mut­ter­fi­gu­ri­nen in Tan Tan in Marok­ko und spä­ter in Berek­hat Ram in Syrien/​Israel, bereits im Acheulé­en zu Zei­ten von Mulier-Homo heidelbergensis/​erectus. Inter­es­san­ter­wei­se fällt in die­sen Zeit­raum der Mensch­heits­ge­schich­te auch ein wei­te­res Kenn­zei­chen mensch­li­chen Bewusst­seins, näm­lich die ers­ten Bestat­tun­gen von Toten (mor­tua­ry sites), wie sie aus den Höh­len von Ata­puer­ca in Spa­ni­en im sel­ben Zeit­raum doku­men­tiert sind (sie­he Zeittafel).

Ein bewuss­tes Able­gen von Toten in Höh­len zeigt ers­te Spu­ren von Reli­gi­on, denn die Syn­chro­ni­zi­tät einer figür­li­chen Dar­stel­lung von Müt­tern, die in ihrer Bauch­höh­le neu­es Leben ent­ste­hen und wach­sen las­sen kön­nen und die Abla­ge von Toten in Erd­bauch­höh­len fin­det im Lau­fe der Mensch­heits­ge­schich­te nicht zufäl­lig statt, son­dern ist Teil des erwa­chen­den, mensch­li­chen Bewusst­seins. Reli­gi­on heißt in sei­nem Ursprung des­halb auch nicht zufäl­lig „Anbin­den, Los­bin­den und Zurück­bin­den“. Men­schen wer­den ange­bun­den an die müt­ter­li­che Nabel­schnur gebo­ren. Um auf Erden leben zu kön­nen, müs­sen sie von der Nabel­schnur los­ge­bun­den wer­den und in der Hoff­nung der Rück­bin­dung an die kör­per­li­che Wie­der­ge­burt durch die Mut­ter liegt die logi­sche, psy­cho­lo­gi­sche Ver­ar­bei­tung des Tren­nungs­schmer­zes, die durch den Tod eines gelieb­ten Ange­hö­ri­gen ver­ur­sacht wird.

Die Hoff­nung der Wie­der­ge­burt durch den Kör­per der Mut­ter wird durch die all­täg­li­che Beob­ach­tung der Natur gestützt, denn für alle sicht­bar, zeigt sich die Natur in Kreis­läu­fen: im täg­li­chen Kreis­lauf der Son­ne, die im Wes­ten unter­geht und nach der Schwär­ze der Nacht jeden Mor­gen im Osten wie­der auf­geht, im monat­li­chen Kreis­lauf von Frau Mond und im Kreis­lauf der Jah­res­zei­ten, in dem auf den schein­ba­ren Tod im Win­ter das Wie­der­erwa­chen der Natur im Früh­ling folgt. Die ver­läss­li­che Bot­schaft der Natur: Nach dem Tod geschieht in der Schwär­ze der Höh­le die magi­sche Wand­lung in neu­es Leben, die nur durch die Mut­ter bewerk­stel­ligt wer­den kann.

Mulier/​homo sapi­ens, dem mit Beginn des Aurigna­ci­ens ab 40 000 v.u.Z. die Höh­len­ma­le­rei­en und die Mut­ter­fi­gu­ri­nen zuge­ord­net wer­den, hat als ers­te Men­schen­art die­se Zusam­men­hän­ge des Lebens nicht nur voll ver­stan­den, son­dern auch als Gott-Mut­ter-Figu­ri­nen und voll­ende­te Höh­len­ma­le­rei­en von mut­ter­ge­bo­re­nen Tier­ar­ten als Reli­gi­on im Rah­men einer hoch ent­wi­ckel­ten müt­ter­li­chen Kul­tur künst­le­risch sicht­bar gemacht.

Pfer­de und Stör­che im Natur­schutz­ge­biet Bar­rue­cos, Cáce­res, Extre­ma­du­ra, Spa­ni­en. Bei­de waren schon immer enge Beglei­ter von matrif­o­kal bewuss­ten Men­schen. | Bild: Franz Armbruster

Matrifokalität und Familie

Matrif­o­ka­li­tät zeigt sich im Paläo­li­thi­kum nicht nur in der Reli­gi­on, son­dern auch im täg­li­chen Zusam­men­le­ben in matrif­o­ka­len Bluts­fa­mi­li­en, die sich wesent­lich unter­schei­den von der Vater-Mut­ter-Kind-Paa­rungs­fa­mi­lie des Patri­ar­chats. Evo­lu­ti­ons­bio­lo­gisch hat sich im Lau­fe der Mensch­heits­ge­schich­te ein Zusam­men­le­ben in matrif­o­ka­len Bluts­fa­mi­li­en ent­wi­ckelt, auf­grund der beson­ders unreif gebo­re­nen und damit für­sor­ge­be­dürf­ti­gen Natur der mensch­li­chen Spe­zi­es. Dar­aus ergab sich ein not­wen­di­ges und enges Zusam­men­wir­ken einer mensch­li­chen Gemein­schaft, um das Über­le­ben der Babys zu sichern. Am bes­ten konn­te dies in einer matri­li­nea­ren Groß­mutter-Mut­ter-Toch­ter-Sohn-Schwes­ter-Bru­der-Tan­te-Onkel-Gemein­schaft bewerk­stel­ligt wer­den, die ihre Ver­wandt­schaft für alle leicht nach­voll­zieh­bar, konsan­guinal und nabel­ab­stam­mend defi­nier­te. Indi­vi­du­el­le Vater­schaft spiel­te kei­ne Rol­le auf­grund der eben­falls in der Natur ver­an­ker­ten fema­le choice der Frau, die eine freie, selbst­be­stimm­te und natür­li­cher­wei­se wech­seln­de Sexua­li­tät der Frau vor­sieht, um eine hohe gene­ti­sche Varia­bi­li­tät inner­halb der Spe­zi­es Mensch sicher zu stel­len. Die­se gene­ti­sche Viel­falt wur­de evo­lu­ti­ons­bio­lo­gisch zusätz­lich durch eine durch Che­mo­ta­xis gesteu­er­te Exo­ga­mie gewähr­leis­tet, die eine Sexua­li­tät inner­halb von konsan­guinal Ver­wand­ten aus­schließt. Das bedeu­tet, dass in den paläo­li­thi­schen Wild­beu­te­rin­nen­ge­mein­schaf­ten nicht nur die matri­li­nea­re Bluts­fa­mi­lie eine Gemein­schaft bil­de­te, son­dern, dass dort auch bluts­frem­de Män­ner auf­grund der in der Natur ver­an­ker­ten Exo­ga­mie durch Sexu­al- und Lie­bes­be­zie­hun­gen im Sozi­al­ver­band ein­ge­bun­den waren. (Bott, Ger­hard; 2009, S. 57 – 72).

Wir kön­nen daher im Paläo­li­thi­kum zwar eine nicht benann­te, kol­lek­ti­ve Form von Vater­schaft kon­sta­tie­ren, die sich aber wesent­lich von der indi­vi­dua­li­sier­ten, hier­ar­chisch-eigen­tums­ori­en­tier­ten, väter­rechts­ab­stam­mungs­ideo­lo­gie­be­stimm­ten Vater­schaft des Patri­ar­chats unter­schei­det. Letz­te­re war näm­lich nur durch­setz­bar durch die Beschnei­dung der natür­li­chen frei­en Sexua­li­tät der Frau in Form von Ehe­ge­set­zen, durch mit Gewalt auf­ge­zwun­ge­ne mora­lisch-theo­lo­gi­sche Keusch­heits­in­dok­tri­na­tio­nen und durch den Wan­del einer ursprüng­lich gesamt­hän­de­ri­schen Öko­no­mie zu einer pri­vat­ei­gen­tums­recht­li­chen Öko­no­mie, von der die Frau­en aus­ge­schlos­sen wur­den, um Macht über den vater­schafts­ab­stam­mungs­be­zo­ge­nen Nach­wuchs zu erlangen.

Der Frau­en­stein von Rie­den­burg, Alt­mühl­tal, Deutsch­land (sie­he Kirs­ten Arm­brus­ter: Gott die MUTTER) | Bild: Franz Armbruster

Matrifokalität und Mutterbild

Wie wir durch die Patri­ar­chats­kri­tik­for­schung frei­ge­legt haben, war Gott im Ursprung eine Mut­ter. Durch das ande­re Gott-Mut­ter-Bild unter­schied sich auch das Mut­ter­bild selbst fun­da­men­tal vom heu­ti­gen Mut­ter­bild im Patri­ar­chat. Sehen wir genau hin, so zeigt sich:

  • Die Mut­ter putzt, wäscht und kocht nicht für ihren Mann, wie in der heu­ti­gen Vater-Mut­ter-Kind-Fami­lie, denn die Paa­rungs­fa­mi­lie mit der die­nen­den Mut­ter ist eine Erfin­dung des Patriarchats
  • Die Mut­ter trägt kein Kind auf dem Arm, wie auf den spä­te­ren patri­ar­cha­len Mari­en­dar­stel­lun­gen, denn die Mut­ter dient auch nicht den Kin­dern, son­dern Kin­der waren eine gemein­schaft­li­che Auf­ga­be für das Kollektiv
  • Die Mut­ter ist nackt. Sie schämt sich nicht für ihren Kör­per und ihre Run­dun­gen, denn ihr Kör­per ist hei­li­ger Raum für die viel­fäl­ti­ge Ent­ste­hung von Leben: weib­li­chem, männ­li­chem, inter­se­xu­el­lem und trans­se­xu­el­lem Leben
  • Die Vul­va und der gan­ze Kör­per der Mut­ter ist hei­lig und der Mann ver­dankt ihr sein Leben. Ver­ge­wal­ti­gun­gen und Gewalt gegen Frau­en sind daher im matrif­o­ka­len Zusam­men­le­ben ein abso­lu­tes Tabu.
  • Die Kul­tur der Müt­ter war eine hoch ent­wi­ckel­te, kriegs­freie und ega­li­tä­re Kul­tur, was an den hoch­wer­ti­gen Höh­len­ma­le­rei­en, der an der Natur ori­en­tier­ten Reli­gi­on von Gott-Mut­ter, dem Feh­len von groß­flä­chi­gen krie­ge­ri­schen Aus­ein­an­der­set­zun­gen und nicht hier­ar­chi­schen Bestat­tun­gen archäo­lo­gisch gut ables­bar ist

Zitatquellen

Bott, Ger­hard
Die Erfin­dung der Götter 
Essays zur Poli­ti­schen Theologie
2009