
Matrifokalität und Religion
Matrifokalität ergibt sich aus der natürlichen Tatsache, dass die Vielfalt menschlichen Lebens, nämlich weibliches, männliches, intersexuelles, transsexuelles oder auch asexuelles menschliches Leben, nabelgebunden im Körper der Mutter heranwächst und von ihrem Körper geboren, also entbunden wird. Nicht der Mann und auch nicht die auf Sexualität reduzierte Frau standen also zu Beginn der Menschheitsgeschichte im Focus des menschlichen Lebens, wie uns das Patriarchat heute täglich weismachen will, sondern die einzigartige Fähigkeit von Müttern durch ihre Körper neues Leben in die Welt zu gebären: Menschenmütter und Tiermütter.
Diese, durch die Natur vorgegebene Fokussierung auf die Mutter, ist Teil der menschlichen Bewusstwerdung im Laufe der Menschheitsgeschichte und ist erstmals kognitiv sichtbar durch die Funde von Mutterfigurinen in Tan Tan in Marokko und später in Berekhat Ram in Syrien/Israel, bereits im Acheuléen zu Zeiten von Mulier-Homo heidelbergensis/erectus. Interessanterweise fällt in diesen Zeitraum der Menschheitsgeschichte auch ein weiteres Kennzeichen menschlichen Bewusstseins, nämlich die ersten Bestattungen von Toten (mortuary sites), wie sie aus den Höhlen von Atapuerca in Spanien im selben Zeitraum dokumentiert sind (siehe Zeittafel).
Ein bewusstes Ablegen von Toten in Höhlen zeigt erste Spuren von Religion, denn die Synchronizität einer figürlichen Darstellung von Müttern, die in ihrer Bauchhöhle neues Leben entstehen und wachsen lassen können und die Ablage von Toten in Erdbauchhöhlen findet im Laufe der Menschheitsgeschichte nicht zufällig statt, sondern ist Teil des erwachenden, menschlichen Bewusstseins. Religion heißt in seinem Ursprung deshalb auch nicht zufällig „Anbinden, Losbinden und Zurückbinden“. Menschen werden angebunden an die mütterliche Nabelschnur geboren. Um auf Erden leben zu können, müssen sie von der Nabelschnur losgebunden werden und in der Hoffnung der Rückbindung an die körperliche Wiedergeburt durch die Mutter liegt die logische, psychologische Verarbeitung des Trennungsschmerzes, die durch den Tod eines geliebten Angehörigen verursacht wird.
Die Hoffnung der Wiedergeburt durch den Körper der Mutter wird durch die alltägliche Beobachtung der Natur gestützt, denn für alle sichtbar, zeigt sich die Natur in Kreisläufen: im täglichen Kreislauf der Sonne, die im Westen untergeht und nach der Schwärze der Nacht jeden Morgen im Osten wieder aufgeht, im monatlichen Kreislauf von Frau Mond und im Kreislauf der Jahreszeiten, in dem auf den scheinbaren Tod im Winter das Wiedererwachen der Natur im Frühling folgt. Die verlässliche Botschaft der Natur: Nach dem Tod geschieht in der Schwärze der Höhle die magische Wandlung in neues Leben, die nur durch die Mutter bewerkstelligt werden kann.
Mulier/homo sapiens, dem mit Beginn des Aurignaciens ab 40 000 v.u.Z. die Höhlenmalereien und die Mutterfigurinen zugeordnet werden, hat als erste Menschenart diese Zusammenhänge des Lebens nicht nur voll verstanden, sondern auch als Gott-Mutter-Figurinen und vollendete Höhlenmalereien von muttergeborenen Tierarten als Religion im Rahmen einer hoch entwickelten mütterlichen Kultur künstlerisch sichtbar gemacht.

Matrifokalität und Familie
Matrifokalität zeigt sich im Paläolithikum nicht nur in der Religion, sondern auch im täglichen Zusammenleben in matrifokalen Blutsfamilien, die sich wesentlich unterscheiden von der Vater-Mutter-Kind-Paarungsfamilie des Patriarchats. Evolutionsbiologisch hat sich im Laufe der Menschheitsgeschichte ein Zusammenleben in matrifokalen Blutsfamilien entwickelt, aufgrund der besonders unreif geborenen und damit fürsorgebedürftigen Natur der menschlichen Spezies. Daraus ergab sich ein notwendiges und enges Zusammenwirken einer menschlichen Gemeinschaft, um das Überleben der Babys zu sichern. Am besten konnte dies in einer matrilinearen Großmutter-Mutter-Tochter-Sohn-Schwester-Bruder-Tante-Onkel-Gemeinschaft bewerkstelligt werden, die ihre Verwandtschaft für alle leicht nachvollziehbar, konsanguinal und nabelabstammend definierte. Individuelle Vaterschaft spielte keine Rolle aufgrund der ebenfalls in der Natur verankerten female choice der Frau, die eine freie, selbstbestimmte und natürlicherweise wechselnde Sexualität der Frau vorsieht, um eine hohe genetische Variabilität innerhalb der Spezies Mensch sicher zu stellen. Diese genetische Vielfalt wurde evolutionsbiologisch zusätzlich durch eine durch Chemotaxis gesteuerte Exogamie gewährleistet, die eine Sexualität innerhalb von konsanguinal Verwandten ausschließt. Das bedeutet, dass in den paläolithischen Wildbeuterinnengemeinschaften nicht nur die matrilineare Blutsfamilie eine Gemeinschaft bildete, sondern, dass dort auch blutsfremde Männer aufgrund der in der Natur verankerten Exogamie durch Sexual- und Liebesbeziehungen im Sozialverband eingebunden waren. (Bott, Gerhard; 2009, S. 57 – 72).
Wir können daher im Paläolithikum zwar eine nicht benannte, kollektive Form von Vaterschaft konstatieren, die sich aber wesentlich von der individualisierten, hierarchisch-eigentumsorientierten, väterrechtsabstammungsideologiebestimmten Vaterschaft des Patriarchats unterscheidet. Letztere war nämlich nur durchsetzbar durch die Beschneidung der natürlichen freien Sexualität der Frau in Form von Ehegesetzen, durch mit Gewalt aufgezwungene moralisch-theologische Keuschheitsindoktrinationen und durch den Wandel einer ursprünglich gesamthänderischen Ökonomie zu einer privateigentumsrechtlichen Ökonomie, von der die Frauen ausgeschlossen wurden, um Macht über den vaterschaftsabstammungsbezogenen Nachwuchs zu erlangen.

Matrifokalität und Mutterbild
Wie wir durch die Patriarchatskritikforschung freigelegt haben, war Gott im Ursprung eine Mutter. Durch das andere Gott-Mutter-Bild unterschied sich auch das Mutterbild selbst fundamental vom heutigen Mutterbild im Patriarchat. Sehen wir genau hin, so zeigt sich:
- Die Mutter putzt, wäscht und kocht nicht für ihren Mann, wie in der heutigen Vater-Mutter-Kind-Familie, denn die Paarungsfamilie mit der dienenden Mutter ist eine Erfindung des Patriarchats
- Die Mutter trägt kein Kind auf dem Arm, wie auf den späteren patriarchalen Mariendarstellungen, denn die Mutter dient auch nicht den Kindern, sondern Kinder waren eine gemeinschaftliche Aufgabe für das Kollektiv
- Die Mutter ist nackt. Sie schämt sich nicht für ihren Körper und ihre Rundungen, denn ihr Körper ist heiliger Raum für die vielfältige Entstehung von Leben: weiblichem, männlichem, intersexuellem und transsexuellem Leben
- Die Vulva und der ganze Körper der Mutter ist heilig und der Mann verdankt ihr sein Leben. Vergewaltigungen und Gewalt gegen Frauen sind daher im matrifokalen Zusammenleben ein absolutes Tabu.
- Die Kultur der Mütter war eine hoch entwickelte, kriegsfreie und egalitäre Kultur, was an den hochwertigen Höhlenmalereien, der an der Natur orientierten Religion von Gott-Mutter, dem Fehlen von großflächigen kriegerischen Auseinandersetzungen und nicht hierarchischen Bestattungen archäologisch gut ablesbar ist
Zitatquellen
Bott, Gerhard
Die Erfindung der Götter
Essays zur Politischen Theologie
2009