Wie kam ich zur Patriarchatskritikforschung?
Ich habe mich fast drei Jahre intensiv mit Beziehungsgewalt beschäftigt. Am Ende wurde in mir die Frage immer lauter, warum es überhaupt zu systematischer Gewalt gegen Mädchen, Frauen und insbesondere Müttern in so großem Ausmaß kommt. Antworten fand ich u.a. in den Büchern und Blogs zur Patriarchatskritik und Matrifokalität.
Wenn jetzt so eine kirchenkritische Frau wie ich an einer Seite maßgeblich mitarbeitet, die Begriffe wie „Gott MUTTER“ oder „Religion“ nutzt, klingeln bei mancher und manchem wahrscheinlich die esoterischen Alarmglocken. Auch bei mir haben sie zunächst geläutet und tun es manchmal auch heute noch. Inzwischen komme ich aber zu einem immer tieferen Verständnis der Begriffe, so dass sich das für mich verschiebt. Klar geworden ist mir bei der gesamten Beschäftigung mit der Thematik, dass „Mutter“, „Gott“ und „Religion“ für uns heute Tabubegriffe sind, dass die Kopplung dieser Begriffe noch größere Ablehnung erzeugt, dass aber genau diese Tabus große Erkenntnismöglichkeiten zu unseren Denkmustern beinhalten. Es ist für viele zum Beispiel weniger problematisch „Gott“ und „Vater“ zu koppeln.
Die Erkenntnisse zu unserer Herkunft, die die Patriarchatskritikforschung liefert, beinhalten handfeste Erkenntnisse für Probleme unserer Gegenwart und eröffnen Perspektiven für eine menschenwürdige Zukunft. Für mich haben diese Erkenntnisse also eine große politische und gesellschaftliche Dimension. Vieles wird auf einmal sonnenklar und logisch.
Wir entfernen uns von einer menschen- und naturfreundlichen Lebensweise
So, wie wir jetzt leben, geht es nicht weiter. Es ist an vielen Stellen sichtbar und wird immer deutlicher, dass wir uns insgesamt von einer menschen- und naturfreundlichen Lebensweise immer weiter wegbewegen. Wir opfern uns Wirtschafts- und Kapitalinteressen. Dabei geht es einem kleinen Teil der Weltbevölkerung gut, während ein immer größerer Teil der Weltbevölkerung leidet. Insbesondere Kinder, Mütter und Frauen sind von dieser Entwicklung betroffen. Aber auch Männer leiden. Und selbst die, die es bis ganz nach oben auf der Karriereleiter geschafft haben, leiden zunehmend unter Depressionen und Burnout. Daneben beuten wir unsere Erde und ihre Ressourcen ohne Rücksicht auf Verluste aus.
- Statt z.B. kinderfreundliche Formen des Aufwachsens zu fördern, wird immer mehr Geld in institutionalisierte Betreuungseinrichtungen gepumpt, die Kinder möglichst früh 24 Stunden outsourcen. Gleichzeitig erhalten diese Betreuungseinrichtungen und die Frauen, die dort arbeiten, zu wenig Geld, um eine wirklich gute Betreuung zu gewährleisten.
- Statt Frauen darin zu unterstützen, natürlich zu gebären, werden die Hebammen abgeschafft. Auch die wichtige Betreuung von Müttern und Kindern vor und nach einer Geburt gehört damit bald der Geschichte an.
- Statt Wirtschafts- und Kapitalinteressen einen Riegel vorzuschieben, um Familien zu schützen, wird ein Leitbild der voll berufstätigen Eltern gepflegt.
- Statt Frauen und Kinder zu schützen, die vor Missbrauch und Gewalt in den eigenen vier Wänden geflohen sind, werden Väterrechte gestärkt und das Wechselmodell als gleichberechtigte Betreuungsform für Kinder nach einer Trennung gefördert.
- Statt zu erkennen, dass angebliche Gleichberechtigung meist am Ende nur den (wirtschaftlich) Stärkeren fördert, werden nette Plakate gedruckt, die nichts ändern.
- Statt menschenwürdige Zustände in der Pflege zu fördern, wird gerade dieser Bereich immer weiter ausgeblutet. Auch hier gilt: Wer genug Geld hat, finanziert Fremdbetreuung von schlecht bezahlten rumänischen Frauen, oder lässt sich ein Ein-Bett-Zimmer im Krankenhaus von der privaten Krankenversicherung bereitstellen mit entsprechender Chefarztbetreuung. Alle anderen müssen gucken, wie sie klar kommen – insbesondere auch die vielen Frauen (und deren Kinder), die zu sehr schlechten Löhnen diese wichtige Arbeit leisten.
- Statt alleinerziehende Mütter zu stärken und finanziell nachhaltig zu stützen, da sie trotz widriger Lebensumstände eine wichtige Leistung für die Gesellschaft erbringen, werden diese immer wieder auf sich selbst und die angebliche Eigenverantwortung für ihre Situation zurückgeworfen. Dies gipfelt zum Beispiel auch darin, dass nicht mehr von „alleinerziehend“ gesprochen wird, sondern von „getrennterziehend“, was mit der Realität eines Großteils dieser Familien nichts zu tun hat.
Die Liste wäre endlos fortzuführen. Aber woran liegt diese Entwicklung? Was sind die tieferliegenden Gründe, dass es so weit gekommen ist? Hatte das einen Anfang und kann das ein Ende haben?
Es war nicht immer so
Durch die Patriarchatskritikforschung wird deutlich, dass diese Form des Lebens sich – mit Blick auf die gesamte Menschheitsgeschichte – noch nicht sonderlich lang durchgesetzt hat. Wir wären nämlich sonst schon lange nicht mehr da.
Außerdem wird klar: Das alles hat ideologische Gründe, die ihren Ursprung in der frühen Bronzezeit haben. Zu diesem Zeitpunkt erkannten Männer durch Viehzucht, welche Bedeutung sie für die Fortpflanzung haben. Erkennbar ist das u.a. daran, dass erst zu diesem Zeitpunkt Darstellungen großer männlicher Geschlechtsorgane Thema werden. Erkennbar ist das auch an einer Verschiebung und Verlagerung der Theologie. Auf einmal werden männliche Götter Schöpfer. Daneben erhält Besitz, Kapital und Erbe und deren Gewinn und Schutz eine zunehmende Bedeutung. Hier liegt also der Ursprung von Male Entitlement. Und dieses musste in der Folge in immer größerem Ausmaß gewaltsam durchgesetzt werden. Die ursprüngliche Religion und Lebensweise, die die Mutter ins Zentrum stellte und daher gemeinwohlorientiert war, musste mit allen Mitteln unterdrückt und ausgelöscht werden.
Eine lebensfreundliche Gesellschaft mit der Mutter im Zentrum
Die bedeutende Rolle der Mütter für den überwiegenden Teil der Menschheitsgeschichte lässt sich ganz klar durch die vielen Mutter-Darstellungen aus Alt- und Jungsteinzeit belegen. Über Maria (die z.B. in der Bibel kaum Thema ist) lebt das Verehren des Mütterlichen im katholischen Glauben bis heute. Es war logisch, dass in der Frühzeit des Menschen die erste Religion sich um die Mutter ausbildete, da ganz offensichtlich erfahrbar war, dass Mütter Leben schenken. Dass dazu ein Vater nötig ist, war zu diesem Zeitpunkt nicht logisch erfahrbar. Dennoch waren Männer partnerschaftlich eingebunden. Eine hierarchische Lebensweise wie wir sie heute kennen, war damals nicht bekannt und hätte auch kein so langes Überleben und Weiterentwickeln der Menschheit gesichert. Männer und Frauen lebten partnerschaftlich. Beide kommen aus der Mutter. Daher waren sie gleichwertig und gleich geliebt und ihr Leben war gleich kostbar. Mütter wurden in ihrer lebensspendenden Funktion besonders geachtet und verehrt. Diese Position musste aber nicht gewaltsam durchgesetzt werden, sondern war ganz „natürlich“ da.
Für heute ist aus diesen Erkenntnissen lernbar: Eine Gesellschaft, die die Mütter ins Zentrum stellt, ist eine lebens- und menschenfreundliche Gesellschaft. Mütter haben kein Interesse daran, dass es ihren Kindern schlecht geht. Sie wollen nicht, dass ihre Kinder in Kriegen kämpfen müssen.
Dabei sollten wir jedoch wagen, eine ganz andere Form von Leben zu denken, das ohne die uns bekannte –meist gewaltsam herbeigeführte – Hierarchie zurechtkommt. Es geht nicht um eine diametrale Umkehrung von Männerherrschaft zu Frauenherrschaft. Der gesamte Herrschaftsbegriff ist problematisch. Es bedeutet auch nicht, dass Frauen die besseren Menschen seien im Sinne einer Wertigkeit.
Jenseits von Hierarchien denken
Da wir alle gewohnt sind in Hierarchien, Wertigkeiten und Kategorien zu denken und einzusortieren, ist es ganz klar, dass diese Seite mit der Begrifflichkeit „Gott MUTTER“ auf Widerstand trifft. Wenn wir aber beobachten, wie wir als Menschen mit Kindern leben, wie Freundschaften und menschliche Beziehungen insgesamt funktionieren, wird auch durch viele neuere Erkenntnisse der Psychologie des Menschen und allein durch Alltagserfahrung immer deutlicher, dass Hierarchie nicht wirklich zielführend ist.
Hierarchie und Macht kann meist nur durch (psychische oder körperliche) Gewalt durchgesetzt werden und erzeugt in Folge Gegengewalt oder Fortführung von Gewalt an anderer Stelle. Tragfähige Beziehungen entstehen aber durch Qualitäten wie gemeinsam verbrachte Zeit, gemeinsame Arbeit, gemeinsames Spiel, Gespräche, Austausch, auch Streit. Nähe eben, gepaart mit Respekt. Auch für diese Gemeinsamkeit braucht es Führung. Aber wir reden hier von einer anderen Führungsqualität, als die, die wir gemeinhin mit Führung koppeln. Daher kommen wir an diesem Punkt nicht mit der uns geläufigen, herrschaftlichen Führung weiter. Und daher geht es z.B. inzwischen spürbar Unternehmen immer besser, die ihre Führung mitarbeiterfreundlich verändern. Und nicht ohne Grund werden viele dieser Unternehmen von Frauen geführt oder zeigen „weibliche Führungsqualitäten“ – also Kooperation statt Konkurrenz, offener Umgang mit Fehlern statt Strafe, positives Krisenmanagement, Familienfreundlichkeit, etc.
Das Tabu Gott und Mutter
Wenn wir jetzt an dieser Stelle von Gott MUTTER sprechen ist das außerdem ein bewusster Affront gegen herkömmliche Weltbilder. Gott ist für viele negativ besetzt. Kein Wunder, denn Gott bedeutet für viele Menschen, die mit christlichen, islamischen u.a. heutigen Theologien groß geworden sind, Strafe, Schuld oder endlose, langweilige Stunden im Gottesdienst. Es bedeutet das Anbeten eines fernen, nicht greifbaren Wesens, das einerseits aufpasst und schützt, andererseits straft. Das passt nicht in ein modernes, aufgeklärtes Weltbild. Gleichzeitig legitimieren Theologien weltweit bestimmte Rollenzuschreibungen für Frauen und Männer. Sie legitimieren auch einen bestimmten Umgang mit unserer Umwelt und ein Bild von uns selbst als privilegierte Herrscher der Welt. Dass dieses Weltbild nicht funktioniert und sogar schädlich ist, wird immer deutlicher.
Die große Zahl der weiblichen Darstellungen aus der Alt- und Jungsteinzeit und die Beschaffenheit der Orte, an denen sie gefunden wurden, belegen klar ein völlig anders Verständnis von Zusammenleben, Mütterlichkeit, Weiblichkeit und Religion und belegen außerdem, dass sie religiös verwendet und gesehen wurden (religiös im Sinne von rückbindend an ein mütterliches Prinzip). Dies genau so zu benennen und darzustellen erweckt großen Widerstand, WEIL es unsere angelernten Ideen und Vorstellungen der Ordnung der Welt und unserem Platz darin in der Tiefe erschüttert.
Wie könnte es anders gehen?
Wenn wir jedoch wagen, uns in diese frühe Form der Religion einzufühlen und uns vorzustellen, wie anders das Leben dieser Menschen ausgesehen haben mag und dass es eben keine primitiven Höhlenmenschen ohne Kultur waren, eröffnet das neue und frische Denkräume. Es bedeutet eben nicht, sich den nächsten Gott zu schaffen, der auf einem Altar angebetet wird, oder ein neues Dogma zu etablieren, dem wir uns blind unterwerfen.
Es bedeutet stattdessen z.B.
- uns nicht als Beherrscher, sondern als Teil unserer Umwelt zu sehen und diese Umwelt als eng mit uns verbundenes System zu begreifen, das schützenswert ist
- uns als Wesen zu begreifen, für die Kooperation lebenswichtig ist und die keine gewaltsam erzwungene Hierarchie brauchen
- Lebens‑, Umwelt- und Menschenfreundlichkeit statt Leistung als oberstes Prinzip etablieren. Das bedeutet auch beste Bedingungen für Mütter, Kinder und Familien.
- die zentrale (Führungs-)position von Frauen und Müttern und die female choice als positives Regulanz des menschlichen Zusammenlebens und der menschlichen Fortpflanzung wiederzuerkennen
- Frauen und Männer als ursprünglich partnerschaftlich kooperierende Wesen mit ihren jeweiligen Qualitäten anzuerkennen und partnerschaftliche Liebe und Sexualität von Klein-Familie zu entkoppeln.
- Unsere Verantwortung als bewusste Wesen gegenüber unseren Mitmenschen und unserer Umwelt wahrzunehmen
- Verständnis dafür zu entwickeln, dass wir andere Lebensmodelle brauchen, um Kinder in einer Art und Weise groß werden zu lassen, die ihnen und v.a. auch uns gut tut und entspricht. Und das ist eben nicht die isolierte Kleinfamilie, die die Verantwortung für Kinder, Erwerbs- und Care-Arbeit auf höchstens zwei Schultern verteilt.
Das alles hat revolutionäres Potential, das aber in eine menschenwürdigere Zukunft weist. Daher: Unsere Frühgeschichte erkennen und verstehen bedeutet, unser Heute zu verstehen und unser Morgen positiv zu gestalten. Das ist mein innerster Antrieb für die Beteiligung an diesem Projekt. Mit offenen Augen zurück in die steinzeitlichen Höhlen zu gehen ist daher nicht rückschrittlich, sondern im besten Sinne fortschrittlich und wegweisend.