Der weitere Entwicklungsschritt des Menschen im Neolithikum ist der Beginn der Herdenhaltung und damit des Hirtentums. Das Hirtentum ist der Arbeitsbereich der Männer, und dieser entwickelt sich im Laufe des Neolithikums vom kollektiven Jägertum weg, hin zu einer individuellen Herdenhaltung. Wiederkäuer und dazu gehören sowohl Schafe, Ziegen als auch Rinder verfügen über ein ausgeklügeltes mehrteiliges Magensystem und über eine, besonders im Pansen, verdauungsphysiologisch enge Symbiose mit Bakterien. Daher sind sie im Vergleich zum Menschen oder auch zum Schwein, in der Lage Rohfaser in großen Mengen zu verwerten und in physiologisch wertvolles tierisches Eiweiß umzuwandeln. Wiederkäuer sind daher prädestiniert dafür, in Savannen, für den Menschen Unverdauliches, in Nahrung umzuwandeln, und nomadische oder halbnomadische Viehhalter gelten bis heute als weniger verwundbar gegenüber Dürren, als sesshafte Ackerbauern, die wesentlich mehr auf eine kontinuierliche Bewässerung angewiesen sind.
Der Beginn der Rinderdomestikation
Die Domestikation des Auerochsen, dem Vorfahren unserer heutigen Hausrinder gelingt zwischen 7000 und 6500 v. u. Z.. Ruth Bollongino, Paläogenetikerin an der Universität Mainz und Autorin der Veröffentlichung „Die Herkunft der Hausrinder; Eine a‑DNA-Studie an neolithischen Knochenfunden“, gibt an, dass die Domestikation von Rindern erstmals 7000 v. u. Z. im Nahen Osten gelang. Die Stammform aller europäischen und vieler asiatischen und afrikanischen Hausrinder ist der Auerochse (Bos primigenius). Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Paläogenetikerin Ruth Bollongino glaubt, inzwischen nachweisen zu können, dass alle heute in Europa lebenden Rinder von dem asiatischen Auerochsen abstammen. Ihr Fazit:
„Heutige Hausrinder tragen exakt die genetische Signatur des asiatischen Auerochsen. Bis heute stammen wohl alle Rinder Europas von asiatischen Vorfahren ab. Offenbar machten sich die Frühbauern in Europa niemals die Mühe, das europäische Wildrind zu zähmen“. (Der Treck nach Westen: www.zeit.de; 2006)
Gerd Bauschmann schreibt hierzu allerdings: „Auerochsen waren von Westeuropa bis zum Chinesischen Meer, im Süden bis ins nördliche Vorderindien, Vorderasien und Nordafrika verbreitet … Auerochsen lebten in großen Herden in mehr oder weniger offenen Landschaften. Ihre Hufe waren dem Steppenleben gut angepasst“ … Ab etwa 6500 v. u. Z. begann an verschiedenen Stellen und zu verschiedenen Zeiten unabhängig voneinander die Domestikation des Auerochsens. (Bauschmann: www.weidewelt.de) Das stimmt auch mit den Aussagen Haarmanns überein, der davon ausgeht, dass sich das Hirtennomadentum zeitgleich auch im nordöstlichsten Teil Europas, im südlichen Russland an der Grenze zu Asien, entwickelt hat. Haarmann schreibt:
“Der Ackerbau ist in der Ära nach der Flut in der südlichen Schwarzmeerregion am erfolgreichsten, zu einer Zeit, als bei den Völkern im Norden das Jagen und Sammeln weiterhin dominiert. In einigen Regionen fördern die klimatischen Bedingungen schon früh die Entstehung einer neuartigen Wirtschaftsform, des Hirtennomadentums. Die Umweltveränderungen im Norden Europas führen im Verlauf des 7. Jahrtausends zur Ausbildung zweier Zonen mit unterschiedlichen Wirtschaftsformen: Wildbeutertum und Fischerei bei den Uraliern im Fluss- und Seengebiet zwischen Wyatka und Kama und Hirtennomadentum bei den Proto-Indoeuropäern in der Wolgaregion. Die Kenntnis des Ackerbaus gelangt dorthin viel später, und zwar erst um 5500 v. Chr.. Das Hirtennomadentum konnte sich so früh entfalten, weil die klimatischen Voraussetzungen für diese Wirtschaftsform bereits mit der fortschreitenden Trockenheit seit Mitte des 10. Jahrhunderts v. Chr. geschaffen wurden: die zunehmende Versteppung des südlichen Russlands“. (Haarmann, 2005, S. 56).
Interessant sind in diesem Zusammenhang zwei weitere genetische Untersuchungen. Die eine betrifft die Frage, wie sich denn später das Bauerntum überhaupt in Europa verbreitet hat. In dem Zeit-Artikel „Der Treck nach Westen“ ist zu lesen:
„Noch unklarer als die Frage wie die europäischen Bauern zu ihren Kühen kamen, ist die Frage woher die Bauern selbst kamen“.
Auch weitere genetische Forschungen von Joachim Burger, Professor für Molekulare Archäologie der Universität Mainz und dem Populationsgenetiker Peter Forster von der Universität Cambridge an Knochenproben von 24 frühen Bauern lieferte einen Befund, den niemand bisher richtig zu deuten weiß. In dem Artikel ist hierüber weiter zu lesen:
„Jedes vierte der Gebeine aus 16 Fundstätten in Deutschland, Österreich und Ungarn wies eine besondere genetische Signatur auf, den mitochondrialen Haplotyp N1a. Doch dieser Gentyp ist aus der heutigen Bevölkerung Europas fast vollständig verschwunden – und auch sonst auf der Welt höchst selten. War da eine besondere Gruppe von Pionieren in Europa am Werk? Einzelne Siedler, die womöglich nicht nur die bäuerliche Kultur, sondern auch eine neue Religion verbreiteten? Die Herkunft der ersten Bauern bleibt ein Mysterium“.
Wolfgang Haak, Paläogenetiker aus dem Institut für Anthropologie der Universität Mainz, der sich besonders mit der Herkunft der europäischen Bauern beschäftigt, berichtet in einer Hörfunksendung des SWR 2, in der verschiedene Wissenschaftler zur Sprache kommen, von Untersuchungen an mitochondrialer DNA eines 7500 Jahre alten menschlichen Knochen (5500 v. u. Z.), die nur über die mütterliche Linie weitergegeben wird. In dem Manuskript zu der Sendung ist darüber zu lesen:
„Zwei Wochen später liegt das Ergebnis vor. Es bestätigt Wolfgang Haaks bisherige Untersuchungen anderer Knochen aus der Jungsteinzeit. Damals war Europa von Jägern und Sammlern bewohnt. Innerhalb weniger Jahrzehnte tauchten jedoch die ersten Bauern auf. Eine der wichtigsten Fragen der Archäologie lautet: Wie kam es zu diesem Übergang? Haben die einstigen Nomaden, Pfeil und Bogen quasi gegen Hacke und Schaufel eingetauscht oder haben die Bauern Jäger und Sammler verdrängt? Der Mainzer Paläogenetiker meint, die Frage der Archäologen beantworten zu können. Haak entdeckte in den alten Knochen ein genetisches Profil, das heute kaum noch in Europa existiert. Im Ursprungsgebiet des Ackerbaus – nämlich im Nahen Osten – war es jedoch sehr häufig. Die Erklärung liegt auf der Hand: Demnach sind nur wenige Bauern nach Europa eingewandert, haben ihre Technik mitgebracht und an die Einheimischen weitergegeben“. (Haak in SWR2, 2007)
Auftauchende Probleme durch die Herdenhaltung
1. Ernährungsphysiologische Probleme: Laktoseintoleranz
Joachim Burger, der ebenfalls bei dieser Sendung zu Wort kommt, berichtet im Zusammenhang mit der Rinderhaltung von weiteren spannenden genetischen Untersuchungen, diesmal im Zusammenhang mit Laktose (Milchzucker), denn Laktose ist sehr schwer zu verdauen. Während Säuglinge die Laktose, die auch in der Muttermilch enthalten ist, problemlos verdauen können, wird diese Fähigkeit des Körpers nach dem Abstillen herunterreguliert, so dass in fast allen Teilen der Welt, Erwachsene den Milchzucker nicht mehr verdauen können. Einzige Ausnahmen sind Teile in Mittel- und Nordeuropa und in Afrika. Joachim Burger hierzu in der Sendung des SWR2:
„In Skandinavien und Holland können fast alle Menschen Milch im Erwachsenenalter in signifikanten Mengen trinken, ohne Probleme dabei zu haben. Das nimmt aber ab nach Osten bzw. nach Südosten und in Sizilien etwa geht die Frequenz gegen Null, dort wiederum wird kaum Milch getrunken. Joachim Burger wollte herausfinden, ob schon die frühen Menschen in Europa in der Lage waren, Milch zu trinken und zu verdauen oder nicht. DNA Untersuchungen ergaben, dass die ersten Bauern in Europa die Milch nicht trinken konnten, weder von Schafen, Ziegen oder Rindern. Dieses Gen zur Verdauung von Laktose hat sich in Europa erst viel später durchgesetzt“.
2. Epidemiologische Probleme: Krankheitserreger
Diese Forschungsergebnisse zeigen, dass der Übergang vom Wildbeutertum zur sesshaften Lebensweise, insbesondere mit Viehhaltung, nicht so einfach vonstatten ging und hier, nach wie vor, viele Fragen offen sind. Hinzu kommt, dass die Menschen sich über die Viehhaltung weitere Probleme aufluden, nämlich die von Krankheitserregern. Die Menschen lernten zum ersten Mal die Bedeutung des Wortes Seuche kennen. Der schottische Epidemiologe Mark Woodhouse meint, dass über die Hälfte der menschlichen Pathogene ursprünglich Tiererreger gewesen seien. Er meint:
„Einige der gefährlichsten Keime hat sich die Menschheit wohl in der Jungsteinzeit eingefangen. Durch den engen Kontakt mit Tieren dürften sich die Steinzeitbauern mit Erregern infiziert haben, die später zu Masern, Pocken, Tuberkulose und menschlichen Grippeviren wurden“. (Der Treck nach Westen: www.zeit.de; 2006)
3. Moralisch-Ethische Probleme: Bildung von Privateigentum
Der Übergang im Neolithikum im männlichen Arbeitsbereich vom Jäger zum Hirten war, nicht nur in ernährungsphysiologischer oder epidemiologischer Hinsicht nicht ganz einfach. Der Schritt vom Jäger- zum Hirtentum führte auch zu einschneidenden moralisch-ethischen und damit soziologischen Veränderungen. Hannelore Vonier schreibt hierzu in ihrem Internetforum „rette-sich-wer-kann“, in einer Artikelserie über die Entstehung des Patriarchats Folgendes, wobei sie sich dabei unter anderem auch auf die Ausführungen Ernest Bornemanns in seinem Essay „Der Zusammenhang zwischen Privatbesitz, Herrschaft und Eifersucht“ bezieht:
„Das Hirtentum entwickelte sich erst, als die Nomaden begannen den Nahrungskonkurrenten den gewohnten Zugang zu den Herden, denen sie folgten zu versperren. Sie nahmen die Herden für sich in Anspruch und beendeten das Teilen … Die Lebensform der Hirten kann sich ohne fundamentale Veränderungen nicht vollzogen haben … Diese emotionalen Veränderungen müssen während eines Prozesses stattgefunden haben, den man als „Akzeptanz des Hirtentums an sich“ bezeichnen kann. Was genau war während dieses Prozesses geschehen? Der erste Schritt war die unbewusste Ergreifung von Besitz, d.h. die Ab- und Ausgrenzung von Nahrungskonkurrenten, denen der gewohnte Zugang zu ihrem Futter (der Herde) verweigert wurde. Die praktische Durchführung eine solche Grenze zu ziehen, muss dazu geführt haben, die an der Herde partizipierenden Raubtiere zu töten. Ein Tier zu erlegen war für die damaligen Menschen nichts Neues; die Jäger der Wildbeutergesellschaften töteten schon immer Waldtiere, Vögel und Fische und leisteten damit einen Beitrag zur Versorgung ihrer Gemeinschaft. Aber ein Tier zu töten, um etwas zu essen zu haben oder ein Tier zu töten, um es systematisch von seinen angestammten Nahrungsquellen fern zu halten sind Handlungen, die sehr verschiedene emotionale Vorbedingungen erfordern. Im ersten Fall führt der Jäger ein heiliges Ritual aus, eine Handlung, die im Zusammenhang mit dem Lebenskreislauf an sich steht: Ein Leben wird genommen, damit ein anderes leben kann … Im zweiten Fall zielt der Mörder direkt und in erster Linie auf den Tod des Tieres, um andere auszuschließen. Neues Wachstum zu fördern oder dem natürlichen Zyklus zu dienen wird zweitrangig und verliert im Laufe der Zeit nicht nur an Bedeutung, sondern der ursprüngliche Sinn und das Wissen darum gehen gänzlich verloren. Hier wird Leben zerstört, um Eigentum – genauer Privateigentum – zu erwerben; und umgekehrt ist Eigentum definierbar exakt durch diese Handlung. Die Emotionen, die solche unterschiedlichen Handlungen hervorrufen sind diametral entgegengesetzt. Im ersten Fall sind die Jäger, die dem erjagten Wild das Leben nehmen, erfreut (und mit ihnen das ganze Dorf). Im zweiten Fall stellte das getötete Tier eine Bedrohung für die Menschen gemachte, durch die Entwicklung zum Hirtentum gefestigte Ordnung dar, wo die Personen, die das Tier töten stolz sind und die Ausgegrenzten neidisch“. (Vonier: www.rette-sich-wer-kann.de)
Hannelore Vonier schließt an dieser Stelle ihre Ausführungen folgendermaßen:
„Auf diese Weise ist durch die Entstehung des Hirtentums „der Feind“ entstanden, der Feind als derjenige, dessen Kampf im Leben genommen wird, um in den Besitz von etwas zu kommen und dadurch eine neue Ordnung abzusichern. Zusätzlich kam eine Einbuße an Vertrauen hinzu. Denn nun war ständige Aufmerksamkeit nötig, die Herde zu beschützen und andere Nahrungssucher fernzuhalten. Das Gefühl der dauerhaften Unsicherheit entstand“.
4. Soziologische Probleme: Erste Grundstrukturen für die Entstehung des Patriarchats
Mit der Domestizierung von Herden sind tatsächlich die ersten soziologischen Grundstrukturen für die Entstehung des Patriarchats entstanden. In der kulturellen Mutterstufe haben wir das Netz des Lebens kennen gelernt, in das jedes Lebewesen und die Erde selbst eingebunden waren, alles war mit allem verbunden. Die Kenntnis um dieses Lebensnetz finden wir auch heute noch bei einer Vielzahl von indigenen Völkern. Gekennzeichnet ist die kulturelle Mutterstufe, wie wir ausführlich dargelegt haben, durch Erdmutter-Menschenmutter-Tiermutteranalogien und eine damit einhergehende Vertrautheit und Geborgenheit, was sich auch in der Geborgenheit des Männlichen in der Menschenmutter und der kosmischen Mutter wiederspiegelt. Durch die seit Beginn des Holozäns anzutreffenden Klimawidrigkeiten zerreißt dieses mütterliche Geborgenheitsnetz allmählich, die soziologischen matrivivialen Strukturen geraten durch die Klimairritationen zunehmend unter Druck. Der erste Riss dieser früheren Ordnung zeigt sich in der Domestizierung von Herdentieren und dem damit einhergehenden soziologischen Wandel der männlichen Rolle vom kollektiven Jäger zum individuellen Hirten. Hannelore Vonier führt hierzu weiter aus:
„Vertrauen und Zuversicht in die natürliche Harmonie allen Seins verschwanden und wurden durch die Sorgen um verfügbaren Lebensunterhalt ersetzt. Angst nicht genug zu haben, existentielle Angst vor dem Verhungern, gehörte ab jetzt zu den Konversations-Netzen, die die Generationen der nächsten Jahrtausende prägte. Die qualvolle Sehnsucht nach Sicherheit wurde von den Hirtenvölkern durch massive Vergrößerung der Herden befriedigt. Diese Tatsache brachte enorme Konsequenzen mit sich, die sich an drei Schlüsselbegriffen festmachen lassen und die Grundmauern des prinzipiellen Aufbaus des Patriarchats darstellen“.
Hannelore Vonier nennt hier drei Punkte, die sich ab diesem Zeitpunkt immer mehr zu internalisierten Werten und Paradigmen entwickeln und zwar:
- Grenzen (Ab- und Ausgrenzung)
- Besitz (und dessen Vermehrung als Gegenmaßnahme zu Mangel und Notsituationen)
- Kontrolle (alle Eventualitäten müssen überwacht werden, um Punkt eins und zwei zu gewährleisten).
Die Autorin folgert hieraus weiter:
„Die drei Maßnahmen sollen grundsätzlich dazu dienen, eine Wiederholung des erlebten Traumas künftig zu vermeiden. Mit diesen drei Maßnahmen wird bis heute versucht Sicherheit zu erreichen. Der patriarchale Leit- und Glaubenssatz lautet: „Je mehr Besitz ich kontrolliere und unter Verschluss halte, desto weniger fühle ich mich verunsichert“. (Vonier: rette-sich-wer-kann)
5. Wachstumszwangprobleme oder die Entstehung des Kapitalismus
Hier liegt die Wurzel des Akkumulationsgedankens und letztendlich die Wurzel des heutigen Kapitalismus. Das Wort Kapitalismus leitet sich ab von dem lateinischen Wort „caput“, das Haupt oder Kopf heißt. Je höher die Kopfzahl meiner Herde, desto mehr Sicherheit ergibt sich daraus. Hier haben wir die Wurzel des bis heute gültigen, scheinbar unendlichen Wachstumzwangs und der ebenfalls zwanghaften Gewinnmaximierung in der Wirtschaft, wobei hiermit, entgegen der allgemeinen Erwartung, kein Lebensglück korreliert ist. Kein Wunder, denn Patriarchat und Kapitalismus sind psychologisch gesehen, die Folge einer klimainduzierten posttraumatischen Belastungsstörung, die nie aufgearbeitet wurde, und in deren Zuge sich soziopathologisches Verhalten als Norm manifestierte. James de Meo spricht in Zusammenhang mit soziopathologischem Verhalten von Panzerungen des Charakters, die sich eventuell durch Wüstenbildung und damit körperlich erfahrene Mangelsituationen des Körpers in der Seele herausgebildet hätten. In einem Interview mit der Zeitschrift Wildfire erinnert er sich an ein Gespräch mit seinem Lehrer Wilhelm Reich:
„Zu dieser Zeit fiel mir eine Sache ein, die Reich gesagt hatte, nämlich, dass es wahrscheinlich ist, dass die Panzerung des menschlichen Tieres etwas mit der Wüste und der Wüstenbildung zu tun haben könnte. Er wies auf Dinge hin wie Eidechsen mit dicker Haut und Kaktuspflanzen mit stachliger Oberfläche – Dinge, die sehr dick und borstig sind – und er sah eine Beziehung zwischen dieser Art von biologischen Eigenarten des Lebens in der Wüste und der borstigen, dickhäutigen Natur von gepanzerten menschlichen Charakterstrukturen“. (De Meo, Interview in „Wildfire“, 1989, Vol. 4/No. 2)
In dieser Wüstenbildung könnte auch in anderen Regionen der Erde, z.B. in der südamerikanischen Atacamawüste, die Herausbildung patriarchaler soziologischer Strukturen ihre Erklärung finden, denn dort finden wir ja schon vor der Kolonialisierung durch die Europäer ebenfalls patriarchale Gesellschaften wie die der Mayas, der Inkas und vor allem auch der Azteken mit ihren vielen Menschenopfern. James de Meo hat in seiner Saharasia Theorie diese Zusammenhänge zwischen Wüstenbildung und Patriarchat detailliert herausgearbeitet und viele seiner Überlegungen sind durchaus nachdenkenswert, wobei seine Wortwahl „Saharasia“ induziert, dass das Patriarchat erstmals in der Sahara entstanden sein könnte. Dies ist aber nicht der Fall, da wir die erste patrilineare hierarchische Gesellschaft, bei den Indoeuropäern, nördlich des Schwarzen Meeres, lokalisieren können. Allerdings ist in der heutigen Zeit tatsächlich auffallend, dass besonders patriarchale Strukturen in den Wüstenregionen des Nahen Ostens und Nordafrikas angesiedelt sind.
6. Das Überbevölkerungsproblem aufgrund der Überbetonung von männlicher Fruchtbarkeit und Vaterschaft
Durch das Hirtentum entsteht nicht nur Abgrenzung und Eigentum, sondern ab diesem Zeitpunkt rückt Vaterschaft in den Vordergrund männlichen Bewusstseins. Die Herden sind Muttertiere mit ihren Jungen, aber ohne einen Bock oder einen Stier erfolgt keine Vermehrung der Herde. Im Umgang mit der Herde erfahren die Männer, dass nur wenige männliche Tiere ausreichen, um eine weibliche Herde zu begatten. Auf einmal scheint die männliche Fruchtbarkeit der weiblichen überlegen. Aus diesem Herdenerfahrungsbereich entwickelt sich, mit zunehmender Patriarchalisierung, eine diamentral entgegengesetzte zunehmende Marginalisierung des Weiblichen und insbesondere des Mütterlichen.
Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die in der Literatur immer wieder erwähnte Zunahme der Bevölkerungszahl im Neolithikum. Wie wir bereits gesehen haben, kann die nicht auf eine bessere Ernährung zurückgeführt werden, und so stellt sich natürlich auch hier die Frage, woran es dann gelegen haben könnte. Hier dürften mehrere Aspekte zugrunde liegen. Die menschliche Fortpflanzung war im Paläolithikum durch lange Still- und damit Zwischen-Geburts-Zeiten sehr reguliert. Gerhard Bott schreibt hierzu:
„Übersehen werden in der Anthropologie durchweg auch die langen „Zwischen-Geburts-Zeiten“ der homo-sapiens-Mutter. Heute ist durch die Paläomedizin erwiesen, dass, wie bei der pan paniscus-Mutter, auch bei der homo sapiens-Mutter während der mindestens drei Jahre dauernden Stillzeit, die im Paläolithikum notwendig und die Regel war, eine Ovulations-Hemmung genetisch ausgelöst wurde, die sie und ihren Säugling vor einer alsbaldigen neuen Schwangerschaft schützte, so dass die Überlebenschancen beider dadurch signifikant erhöht wurden … Aus diesem Tatbestand folgt, dass eine paläolithische Mutter, trotz ständigen Sexualverkehrs, höchstens alle vier Jahre schwanger wurde und ein Kind zur Welt brachte. Erst im Neolithikum wurde die genetische Ovulationshemmung abgebaut, was nach Meinung der Medizin auf veränderte Ernährung zurückzuführen sein könnte, die die Folge der neuen, neolithischen Wirtschaftsweise war“. (Bott, 2009, S. 23).
Aus dieser genetischen Ovulationshemmung heraus, lässt sich auch erklären, warum Vaterschaft sehr lange nicht mit Schwangerschaft und mütterlicher Fruchtbarkeit in Verbindung gebracht wurde, während nun mit der Herdenhaltung und dem Hirtentum eine väterliche Beteiligung ganz offensichtlich wurde.
Wahrscheinlich führte die klimainduzierte Veränderung der Lebensweise bei den Frauen in mehrfacher Hinsicht zu einer nachlassenden Ovulationshemmung. Durch den längeren Aufenthalt in Räumen, vor allem auch nachts mag auch ein möglicher, ursprünglicher, lunarer Aspekt der Regulierung von mütterlicher Fruchtbarkeit verloren gegangen sein. Hinzu könnte auch, durch die veränderte Vegetation, ein Verlust an ovulationshemmenden Kräutern in der Nahrung gekommen sein, denn es ist bekannt, dass gerade in den Steppengebieten die Vegetation der Kräuter durch Wildgräser ersetzt wurde, was ja wiederum letztendlich zur Domestikation von Getreide geführt hatte. Ein wesentlicher Aspekt für die Zunahme der Geburtenrate im Verlauf des Patriarchats war aber sicherlich auch eine zunehmende Überbewertung der männlichen Fruchtbarkeit, bis hin zu einer künstlich konstruierten aseitätischen Vaterschaft, wie wir es im Kapitel „Der Muttermord“ schlüssig nachvollziehen konnten. Dies in Verbindung, mit der sich aus der Herdenhaltung ergebenden Akkumulierung von möglichst vielen „capites“, Häuptern, führte zu dem Verhalten möglichst viele Frauen und Nachkommen und zwar genetisch eigene Nachkommen zu akkumulieren. Je mehr Nachkommen ein Mann hat, desto bedeutender war und ist er. In Verbindung mit der zunehmenden Verachtung des weiblichen Geschlechts, entwickelte sich daraus schließlich eine übersteigerte Viromanie, die sich darin ausdrückte und auch heute oft immer noch ausdrückt: Je mehr Söhne ein Vater hat, desto bedeutender ist er. Die Folge dieses fehlgeleiteten Verhaltens können wir heute in der Bevölkerungsexplosion mit ihren gewaltigen Problemen erleben, wobei großer Kinderreichtum mit patriarchalen Strukturen eng korreliert ist. Und wir können es auch an dem, in vielen Kulturen bis heute praktizierten weiblichen Infantizid festmachen, da das Leben eines Sohnes wesentlich höher geschätzt wird als das Leben eines Mädchens.
7. Das Problem der Freiheitsberaubung als Beginn der Sklaverei
Mit dem Hirtentum wurde auch eine weitere Verhaltensweise zur Norm, nämlich die Verhaltensweise, dazu berechtigt zu sein, ein anderes Lebewesen in Gefangenschaft halten zu dürfen. Freiheitsberaubung gegenüber Tieren wurde zur Norm. Während die Menschen in der kulturellen Mutterstufe in Trancen mit Tiergeistern Kontakt aufnahmen und sie als Totemtiere achteten und würdigten – was heutige Naturvölker bis heute tun -, nahm sich der Mensch mit beginnendem Patriarchat auf einmal das Recht heraus, das Sein eines anderen Lebewesens auf ein Nutzungsrecht durch den Menschen zu reduzieren. Die Existenz eines Tieres war keine Seinsexistenz mehr, sondern sie wurde auf eine auf den Menschen bezogene Nutzungsexistenz reduziert. Später wurden diese Verhaltensmuster alle auch auf den Menschen selbst übertragen, denn mit diesem Verhaltensdammbruch dauerte es nicht mehr lange, bis auch Sklaventum unter Menschen zur akzeptierten Norm wurde. Sklaven als Arbeitssklaven zur Akkumulierung von Eigentum für die Herren, und speziell weibliches Sklaventum z.B. in Form der Harems ebenfalls für die Herren. So wie Tiere erstmals durch die Herdenhaltung verdinglicht wurden, geschah dies später, erst mit Frauen und schließlich auch mit Männern, insbesondere mit farbigen Männern. Noch heute bekannte Sitten und Gebräuche wie arrangierte Ehen und Brautpreise, sowie Frauen als Tauschobjekte, gehen auf die erste Verdinglichung von Tierexistenzen in der Herdenhaltung zurück. An dieser Stelle sei an die Worte des Häuptlings Seattle in seiner berühmten Rede „Meine Worte sind wie die Sterne“ erinnert, die sich bis heute als Worte der Weisheit erweisen:
„Was immer den Tieren geschieht – geschieht bald auch den Menschen. Alle Dinge sind miteinander verbunden“. (Seattle in Seed; Macy; Fleming; Naess; 1989; S. 91).
8. Das Problem der Kastration und sexuellen Beschneidung
Auch ein weiterer normativer Einschnitt erfolgte später im Zuge des Hirtentums, nämlich die, der scheinbar „berechtigten“ Kastration von Arbeitsochsen. Dieser massive Eingriff in das Sexualleben eines anderen Wesens, übertrug sich ebenfalls, nicht sehr viel später, auf den Menschen in Form der Beschneidung. Während die männliche Beschneidung noch relativ harmlos ausfällt, bildet die pharaonische Klitorisbeschneidung von Frauen, einen massiven und zugleich hoch soziopathologischen Eingriff in die Sexualität von Frauen, und auch dieses barbarische Verfahren wird in einer ganzen Reihe afrikanischer Kulturen bis heute ausgeübt.
9. Das Problem der Entstehung von Hierarchie
Hinter dem Hirtentum steht ein soziologischer Bruch im Verständnis und im Verhalten gegenüber anderen Lebewesen. Während in Wildbeutergesellschaften eine Achtung vor dem Leben und dem Tod eines anderen Wesens steht, was sich unter anderem auch in diversen Jagdritualen ausdrückt, die Dankbarkeit und Achtung gegenüber einem Wesen zeigen, das sein Leben lässt, damit ein anderes Leben weiter leben kann, geht diese ehrfürchtige Haltung mit zunehmender Patriarchalisierung verloren, was sich wiederum in der heutigen altruismusfreien Massentierhaltung ausdrückt. Während in der kulturellen Mutterstufe und bei vielen Naturvölkern bis heute eine hohe Achtung vor anderen Lebewesen zu finden ist, geht mit dem Hirtentum nicht nur die Achtung, sondern auch der Altruismus verloren. Wölfe und Bären wurden in vielen Teilen der Welt inzwischen praktisch ausgerottet, weil der Mensch sich anmaßte, ihre Lebensbereiche beschneiden zu dürfen, und bis heute glaubt jeder Schafbauer das Recht zu haben, sogenannte Raubtiere töten zu dürfen, sobald einer der seltenen Wölfe oder Bären eines seiner Schafe gerissen hat. Die Norm des Teilens wurde aufgehoben, die Norm des Respekts und der Achtung wurde ebenfalls ausgehoben. Mit der Besitzergreifung von eigentlich frei lebenden Tieren bildete sich die erste Form der Herrschaft heraus.
Die erste Hierarchie ist die, des Hirten gegenüber der Herde, die Egalität aller Lebewesen wird mit dem Hirtentum aufgehoben.
Ist diese soziologische Norm erst einmal verletzt, ist es nicht mehr weit, diese neue Norm nach Belieben auszuweiten, was ja auch in der Folge überall real geschehen ist und immer noch geschieht.
Das Hirtentum hebelt die ethischen Grundwerte, das Lebensnetz, das Wissen, das alles mit allem verbunden ist der kulturellen Mutterstufe erstmals aus. Dies ist der eigentliche moralische Dammbruch. Es ist der ethische Fall des Menschen.
Nicht die Wildbeuter waren die Barbaren, wir die modernen Menschen sind die Barbaren. Wir quälen, foltern, töten, missbrauchen und vergewaltigen und können aus einem solchen Verhalten sogar Lust und Freude beziehen. Kein Tier würde jemals das tun, was Menschen seit mindestens 6000 Jahren für legitim halten. Der Herr ist dein Hirte, steht in der Bibel in einem der berühmtesten Psalmen, und die Insignien des Hirten sind der Krummstab, um die „dummen“ Schafe einzufangen und die Geißel, um die „dummen“ Schafe zu züchtigen. Krummstab und Geißel sind die späteren „heiligen“ Insignien des ägyptischen Pharao, der Krummstab ist bis heute ein heiliges Insignium eines katholischen Bischofs, aber im Grunde genommen sind sie die Insignien des gesamten Patriarchats.
Wer seinen Sohn „liebt“, der züchtigt ihn und wer seine Tochter „liebt“, der macht noch Schlimmeres mit ihr. (siehe auch Bott, 2009, S. 141).
10. Das Problem des theologischen Blutopfers
Interessant ist auch, dass mit zunehmender Ausbildung des Patriarchats ein anderes soziologisches Phänomen auftritt, nämlich das des theologischen Blutopfers in Form eines männlichen Tieres, eines Widders oder eines Stieres oder auch eines Menschensohnes, wie wir es mit Jesus im Christentum kennen. Während in der kulturellen Mutterstufe die Frauen durch ihr heiliges Menstruationsblut, ihr Blut in einem naturgegebenen lunaren Kreislauf an die Erde zurückgaben, wird nun Blut durch ein Opferritual patriarchal theologisch umfunktioniert.
Das Tieropfer des Patriarchats ist also eine theologische Imitation des menstruellen Blutes.
Aber während in der kulturellen Mutterstufe das Menstruationsblut in Rückbindung an die Erde und im eigentlichen Sinn von Religion, der Erde wieder zugeführt wurde, wird nun ein Tier getötet, um den Mann aufzuwerten. Da die Menschen damals die Wertvorstellungen der kulturellen Mutterstufe noch gut verinnerlicht hatten, war diese Tiertötung natürlich mit Schuld verbunden, und so wird das Tieropfer zu einem Sühneopfer umfunktioniert. So kommt in logischer Schlussfolgerung mit dem Hirtentum das erste Mal die Sünde in die Welt, denn die Menschen hatten anfangs sicherlich ein schlechtes Gewissen gegenüber den Tieren. Es war ihnen bewusst, dass sie die alte Ordnung der Mutter missachteten und das Netz des Lebens zerrissen. Um dieses Tun zu rechtfertigen, mussten theologische Kunstgebilde entwickelt werden, die uns heute als Religionen aufgetischt werden. Die theologische Aufwertung des Blutopfers finden wir sehr klar in der Bibel des ersten monotheistischen Hirtengottes Jahwe in der Geschichte zwischen Kain und Abel beschrieben. Im 1. Buch Mose 4,2 können wir hierzu nachlesen:
„Und Abel wurde ein Schafhirt, und Kain wurde ein Ackerbauer. Und es geschah nach einiger Zeit, da brachte Kain von den Früchten des Ackerbodens dem Herrn eine Opfergabe. Und Abel, auch er brachte von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Und der Herr blickte auf Abel und seine Opfergabe; aber auf Kain und auf seine Opfergabe blickte er nicht“.
Der Ackerbau, der eigentlich ursprünglich ein Gartenbau ist, und für den die Mütter, und mit der kulturellen Mutterstufe verbundene Männer stehen, wird hier theologisch marginalisiert, während das Hirtentum aufgewertet wird. Natürlich wird parallel dazu das Menstruationsblut abgewertet, ja sogar beschmutzt. Menstruierende Frauen gelten nun als unrein. Auch hier bleibt der ethische Dammbruch des Opfers nicht auf die Tiere beschränkt, sondern wird mit der Zeit auf den Menschen selbst übertragen. Die Steigerung der Blutopferung vom Tieropfer zum Menschenopfer wird bereits im Alten Testament theologisch ethisch begründet, als Abraham aufgefordert wird, seinen Sohn zu schlachten. Im 1. Buch Mose Kapitel 22, 10 lesen wir:
„Und Abraham streckte seine Hand aus und nahm das Messer, um seinen Sohn zu schlachten“.
Erst im letzten Moment erlässt dieser Hirten-Vatergott Abraham diese Gehorsamkeitsprüfung mit den Worten:
„Strecke deine Hand nicht aus nach dem Jungen, und tu ihm nichts! Denn nun habe ich erkannt, dass du Gott fürchtest“ (Vers 12).
Die Christen setzen dann im Neuen Testament dieses angeblich erforderliche männliche Blutsündenopfer fort, denn dort kommt Gottes eigener Sohn Jesus auf Golgatha nicht mit dem Leben davon. In Matthäus 27, 46 lesen wir:
…“um die neunte Stunde aber schrie Jesus mit lauter Stimme auf und sagte: …„mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“
Damit wir dieses angeblich für ein Leben notwendige Blutopfer ja nicht vergessen, hängen wir bis zum heutigen Tag in möglichst viele unserer öffentlichen und privaten Räume ein Kreuz, das einen blutenden Jesus zeigt, bekreuzigen uns beim Gebet ebenfalls möglichst oft und trinken bei der Abendmahlsfeier das Blut und essen den Leib unseres Gottes (je nach protestantischer oder katholischer Auslegung mehr oder weniger symbolisch). Wer kann ernsthaft glauben, dass auf dieser „religiösen“ Basis ein Gutes Leben entstehen kann? Wenn dieser Herr, der ein eifersüchtiger Gott ist, noch dazu vorgibt der einzige Gott zu sein, sind weitere Blutopfer vorprogrammiert.
Literatur
Bick, Almut: Die Steinzeit, 2006
Bott Gerhard: Die Erfindung der Götter; Essays zur Politischen Theologie, 2009
Der Treck nach Westen. www.zeit.de, 2006
Haak, Wolfgang; Institut für Anthropologie; Paläogenetik; Johannes-Gutenberg-Universität Mainz im Interview SWR2 Sendung 27.6.2007
Haarmann, 2005: Geschichte der Sintflut; Auf den Spuren der frühen Zivilisationen, 2006
Seed, John; Macy, Joanna; Fleming, Pat; Naess, Arne: Denken wie ein Berg; Ganzheitliche Ökologie: Die Konferenz des Lebens, 1989