Die GROSSE Liebe
Kaum ein Begriff ist so überfrachtet wie „Liebe“. Die meisten Lieder, viele Filme, viele Bücher drehen sich um Liebe. Und ganz besonders präsent ist Liebe in der Bibel im Neuen Testament, in dem Gott aus seiner Liebe zu den Menschen seinen einzigen Sohn für die Sünden aller opfert.
Liebe ist das, was uns von klein auf als besonders erstrebenswert vermittelt wird. Was Liebe aber sein soll, ist seltsam unklar umrissen. Liebe sei „ein universelles Prinzip“, sagen manche. Für andere ist es etwas fließendes, für manche ist es Hingabe, für wieder andere Leidenschaft, dann auch eine Entscheidung und eine Tätigkeit oder eben Glück. Für viele definiert es ihre Form des Zusammenlebens, v.a. mit dem anderen Geschlecht, und reguliert Sexualität. Liebe lässt sich also nicht aus sich selbst heraus definieren, sondern nur über andere Gefühle, Handlungen und Haltungen. Allen ist dennoch klar, dass es irgendetwas großes sein soll.
Auf Kriegsfuß mit der Liebe
Ich kann aus meiner eigenen Erfahrung sagen, dass ich mit der Liebe immer irgendwie auf Kriegsfuß stand. Ich hatte wunderschöne Gefühle der Verbundenheit mit anderen Menschen, ich hatte atemberaubende sexuelle Erlebnisse oder sexuelle Anziehung mit anderen, ich hatte Glückserlebnisse durch und mit anderen, ich war oft verliebt und ich hatte langjährige Partnerschaften und Freundschaften. Aber all das war nie von Dauer. Es waren Momentaufnahmen – mal längere, mal kürzere Phasen.
Wenn ich selbst sagte „Ich liebe Dich“, oder wenn jemand anderes das zu mir sagte, war mir im selben Moment die Vergänglichkeit dieses Gefühls oder Zustands bewusst. Ich konnte mich selbst darin nie 100% ernst nehmen, weil ich genau wusste, wie schnell sich das ändert. Ich fühlte mich oft falsch, weil ich das, was mir als die große Liebe von klein auf vermittelt wurde, so nicht für mich als eine dauerhaft bleibende Sache erlebte. In ehrlichen Gesprächen mit anderen bestätigte sich für mich, dass nicht nur ich das so erlebe.
Wenn ich nun mit einer solchen Aussage in eine therapeutische Beratung gehe, wird mir schnell eine Bindungsstörung unterstellt. Wenn ich zum Beispiel außerdem zugebe, dass ich neben meinem derzeitigen Partner immer auch andere Menschen erotisch oder sonstwie anziehend fand und das gern ausgelebt hätte und habe, wird auch das gern als Störung gesehen. Dass all das aber etwas zutiefst menschliches und sehr gesundes ist, weiß ich erst, seit ich mich intensiver mit Patriarchatskritik beschäftige. Therapien versuchen an diesem Punkt – ähnlich wie viele Ratgeber – zu vermitteln, dass man sich Liebe erarbeiten muss. Aber, Entschuldigung: Gibt es etwas unerotischeres und lustloseres als Arbeit in Bezug auf menschliche Beziehungen? Ist Liebe eine Leistung? Und ist das alles überhaupt ehrlich?
Hinter „Liebe“ stehen lebenswichtige, menschliche Bedürfnisse
Hinter dem unklaren Begriff der Liebe stehen eigentlich sehr klare, menschliche Bedürfnisse. Diese sind unter anderem:
- Das Bedürfnis nach Verbundenheit mit anderen Menschen
- Das Bedürfnis nach Gemeinschaft und Kooperation
- Das Bedürfnis nach körperlicher Nähe
- Das Bedürfnis nach Sexualität
- Das Bedürfnis nach Geborgenheit
- Das Bedürfnis nach Zuverlässigkeit
- Das Bedürfnis nach Austausch
- Das Bedürfnis nach gegenseitiger Unterstützung
Versetzen wir uns nun zurück in die Frühzeit des Menschen, in der alle in matrifokalen (meint mutterzentrierten und blutsverwandten) Sippen lebten. Diese Lebensform lebten wir über ca. 500.000 Jahre – also den überwiegenden Teil unserer Existenz als Menschen. War in dieser Zeit ein Begriff wie Liebe notwendig? Wie lebten die Menschen damals? Wie fühlten sie sich? Wie sah es mit der Erfüllung der elementaren Bedürfnisse des Menschen aus?
- Verbundenheit mit anderen Menschen war über die blutsverwandte, matrifokale Sippe konstant gegeben.
- Gemeinschaft und Kooperation war eine lebensnotwendige Grundlage des täglichen Zusammenlebens. Eine Vereinzelung wie heute war nicht vorhanden und wäre ein Todesurteil für den einzelnen gewesen.
- Körperliche Nähe war täglich möglich durch direkte Verwandtschaftsbeziehungen und eine lange gewachsene Verbindung.
- Sexualität wurde frei gelebt zwischen nicht-verwandten Partnern. Sie war entkoppelt von Partnerschaft und Familie. Dabei wählten Frauen (female choice) ihren Sexualpartner und bestimmten die Häufigkeit von Sexualkontakten.
- Geborgenheit war selbstverständlich.
- Zuverlässigkeit war ebenso selbstverständlich über die blutsverwandten Sippenmitglieder gegeben. In der Sippe trugen alle dazu bei, dass der einzelne gut versorgt war.
- Austausch war über blutsverwandte Sippenmitglieder möglich. Ebenso aber auch über sich von außen der Sippe zugesellenden, nicht-blutsverwandte Männer.
- Gegenseitige Unterstützung war lebensnotwendig (siehe oben).
Es ist also davon auszugehen, dass die überlebenswichtigen, menschlichen Bedürfnisse, die wir heute mit Liebe koppeln, während der überwiegenden Zeit der Menschheitsgeschichte mehr als ausreichend erfüllt wurden.
Eine Vereinzelung konnten sich die Menschen nicht leisten. Es war ebenso nicht leistbar, Kinder nur mit einem Paar aus Frau und Mann in Form einer wirtschaftlich auf sich gestellten Kleinfamilie groß werden zu lassen. Außerdem war es nicht erstrebenswert und nötig, Sexualität dauerhaft auf ein Einzelpaar zu beschränken. Eine überlebensnotwendige genetische Vielfalt war über wechselnde Sexualpartner eher gegeben. Ebenso war eine größere Kinderzahl für die einzelne Frau riskant. Da Frauen zu diesem Zeitpunkt lange stillten, bekamen sie im Abstand von ca. 4 Jahren Kinder und maximal ca. 4. Dass Sex zu Schwangerschaft führte, wurde erst am Übergang zum Neolithikum deutlich, als die Menschen sesshaft wurden und Männer begannen, Tiere zu züchten. Die Vaterschaft hatte also keine Bedeutung. Gleichwohl hatten Kinder viel Kontakt zu Männern und Männer viel Kontakt zu den ihnen blutsverwandten Kindern.
Die „Liebe“ hält Einzug im Patriarchat
Liebe ist also ein Begriff und Konstrukt, das in dieser isolierten Form erst zu einem viel späteren Zeitpunkt der Menschheitsgeschichte Einzug hielt. Erst mit Beginn des Patriarchats wurde es notwendig, Liebe als etwas heiliges, erstrebenswertes zu etablieren. Besonders präsent ist dieser Begriff wie gesagt in der Bibel. Aber auch andere theologische Ideologien halten die Liebe hoch.
Liebe als isolierter und überhöhter Wert und Begriff wird erst notwendig durch die Vereinzelung des Menschen. Dabei wird Liebe gleichzeitig benutzt, um patriarchale Muster des Zusammenlebens ideologisch festzuzurren. In der Erarbeitung der Inhalte dieses Textes sagte Kirsten Armbruster: „Liebe ist die Droge des Patriarchats.“
Das Ideal des lebenslangen Paars und der Kleinfamilie
Das theologisch geforderte, möglichst lebenslange Paar („bis dass der Tod Euch scheidet“), in dem der Vater die Führungsrolle inne hat und in dem Sexualität streng reglementiert und tabuisiert wird, tritt an die Stelle der mutterzentrierten Groß-Sippe. Damit ist für den Mann u.a. auch eine Kontrolle über die Sexualität seiner Frau gegeben, damit sie ihm nur seine Kinder „schenkt“. Eine biblische Vorschrift ist unter anderem: „Seid fruchtbar und mehret Euch“. Warum? Zahlreiche v.a. männliche Nachkommen sichern väterlichen Machterhalt. Daher bekommen Frauen im Patriarchat oft viel mehr Kinder als ihr Körper stemmen kann und ihr Körper wird auf die Funktion als fruchtbares Gefäß reduziert. Daher auch ist Verhütung oder gar Abtreibung nach wie vor theologisch verpönt. An die Stelle der female choice, tritt eine männerdominierte Sexualität, die allzeitige Verfügbarkeit über den Frauenkörper verlangt. Gleichzeitig ist die Versorgung des Nachwuchses wirtschaftlich und kräftemäßig immer überfordernd, weil das Lebenskonzept der Kleinfamilie defizitär ist. Das bekommen wiederum insbesondere die Mütter zu spüren, die – isoliert von familiärer oder gesellschaftlicher Unterstützung – das Projekt Familie und Care-Arbeit größtenteils allein zu stemmen haben. Daneben wird dem (Liebes-)Paar viel zu viel aufgebürdet. Möglichst alle menschlichen Bedürfnisse der Verbundenheit sollen lebenslang von einem einzigen Partner in Form der großen Liebe erfüllt werden. Das ist nicht leistbar. Wenn das deutlich wird und zum Beispiel eine Trennung droht, wird das mit Schuld beladen und als persönliches Scheitern empfunden.
Im Patriarchat sind menschliche Grundbedürfnisse nicht mehr ausreichend erfüllt
Lebensnotwendige menschliche Grundbedürfnisse in den Begriff Liebe zu verpacken, wird also erst wichtig zu einem Zeitpunkt, an dem die menschlichen Grundbedürfnisse nicht mehr ausreichend erfüllt sind.
Theologische Ideologien tun viel dazu, dass Liebe als etwas heiliges und großes vermittelt wird. Gleichzeitig ist die Erfüllung des Liebeswunsches aber immer an Bedingungen geknüpft, die den Menschen in seiner Entfaltung beschneiden und die Erfüllung des Wunsches immer wieder in die Unerreichbarkeit verschieben. Gern wird die Erfüllung und Erlösung sogar ins Jenseits verlagert. Dadurch wird der Mensch lenkbar. Er wird auf Glaube, Hoffnung und Liebe vertröstet, statt ihm im Jetzt reale und greifbare optimale Bedingungen zu erlauben und zu ermöglichen. Das Jetzt darf garstig und leidvoll sein, wenn im Jenseits die Erlösung wartet. Der Mensch rennt also sein Leben lang hinter der Möhre der Liebe her, aber erreicht sie nie wirklich und schon gar nicht dauerhaft. Für seine Verfehlungen, die durch unzureichend erfüllte Bedürfnisse entstehen (z.B. sexuell), muss er dann wieder büßen.
Der Mensch wird über „Glaube, Hoffnung und Liebe“ lenkbar
Auf der Suche nach der großen Liebe landen Menschen in destruktiven Beziehungen, lassen sich ihren Verstand einlullen, führen im Namen der göttlichen Liebe Kriege, halten über Jahre längst tote Verbindungen aufrecht, opfern sich auf, verausgaben sich, verraten sich. Natürlich werden auch sehr positive und kreative Leistungen im Namen der Liebe erbracht. Aber es liegt in der Natur des Menschen, kreativ und schöpferisch zu sein, mitfühlend zu sein, sich um andere zu kümmern und zu kooperieren. Dazu braucht es den Begriff der Liebe nicht. Eine Vorschrift der „Nächstenliebe“ wird erst notwendig zu einem Zeitpunkt, an dem der Mensch seine natürliche Empathie wegen ungünstiger Bedingungen beschränken musste und nun die Erfüllung seiner Bedürfnisse gewaltsam erkämpfen muss.
Die „heilige Liebe“ entzaubern heißt, ehrlich Bedürfnisse zu benennen
Wenn Menschen sich entscheiden, eine Zeit ihres Lebens gemeinsam zu verbringen, sich gegenseitig zu unterstützen und gemeinsam für Kinder zu sorgen, ist dagegen in meinen Augen nichts einzuwenden. Unser patriarchales Gesellschaftssystem erzwingt das ja geradezu. Aber es sollte dann auch einfach so benannt werden, wie es ist: Man mag sich, man braucht sich, man entscheidet sich füreinander, man schließt einen Vertrag, man spart Steuern. Dazu braucht es keinen Begriff der „heiligen Liebe“. Ähnliches gilt dafür, wenn Menschen sich für einen exklusiven Sexualpartner entscheiden. Es ist aber ebenso wenig verwerflich, wenn Menschen ihre Sexualität mit mehreren Partnern offen ausleben oder ihre Kinder allein oder in anderen kooperativen Lebenskonzepten groß werden lassen.
Die Natur ist vielfältig. Sie braucht kein Dogma der Liebe. Im Gegenteil glaube ich, wenn wir das Dogma der Liebe loslassen lernen und offener/ehrlicher über unsere echten Bedürfnisse sprechen und für diese eintreten, geht es allen besser. Was wir als Liebe gelernt haben, ist ein Ersatzkonstrukt für menschliche Bedürfnisse. Nicht mehr und nicht weniger.